mauser

"...die wolken still/sprachlos die winde."

"vom sprechen, das nicht aus einem mund kommt."

"politics of affection and uneasiness"
  Ulrike Haß

Vom Sprechen das nicht aus einem Mund kommt
Chor und Geographie bei Heiner Müller


vortrag gehalten am 6.06.2004 auf kampnagel hamburg, anlässlich der aufführung "mauser" von heiner müller in der regie von claudia bosse - eine kooperation vontheatercombinat, nationaltheater montenegro und kampnagel hamburg

Das Chorische ist kein Sonderfall jener Texte Müllers, die einen Chor verzeichnen. Der Chor ist auf das Engste mit der Frage des Bodens, der Erde, der Geographie, der Landschaft verknüpft, welche bei Heiner Müller eine solch herausragende Rolle spielen. Das Projekt eines tradierbaren Bodens wird verabschiedet und mit ihm das Lehrstück. Nicht das Projekt, sondern die Figur des Abschieds wird wieder aufgenommen und verkettet sich, seltsam genug, mit anderen Abschieden. Deutschlands verheerende Unionsgeschichte scheint in besonderer Weise liiert (und befördert durch seine längste Geschichte als Heiliges Römisches Reich deutscher Nation) mit der monströsen Union von Schwert und Wunde, in der Müller die Geographie jener Welt erkennt, die heute im Namen der Vormacht der westlichen Welt immer mehr eins sein will. Die ‚geheegten’ Formen der Feindschaft weichen absoluten und durch nichts mehr begrenzten Feindschaften, für die der Hegemon (was ehemals die von einem Staat gegen andere, gleich unabhängige Staaten ausgeübte Vorherrschaft bezeichnete, wie ein Lexikon aus dem 19. Jahrhundert noch weiß) zu einem Transportunternehmen des Schreckens herabsteigt. Die Berührungsform mit dieser monströsen Unionsgeschichte ist die Passage einer Grenze, die niemals nur eine Grenze ist, sondern viele, die ineinander greifen und den Reisenden gleiten lassen, bis die Bewegung der Toten sichtbar wird, die sich sammeln „ZUR HEIMKEHR DES PLANETEN IN SEIN NICHTS“.

1. WIR
MAUSER, eine Szene der Revolution in der Stadt Witebsk, die für „alle Orte (steht), an denen die Revolution gezwungen war ist sein wird, ihre Feinde zu töten“, wie Heiner Müller im letzten Satz schreibt, mit dem er seine Anmerkung zu Mauser beschließt. Ein Satz, der jedoch gerade zum Inhalt hat, dass sich nichts jemals abschließen wird, solange „die Revolution gezwungen war ist sein wird“. Eine Revolution, die gegen ihre Feinde aufsteht und gewalttätig wird, und ein einzelner, der sich dagegen auflehnt – davon handelt Müllers Gedicht DAILY NEWS NACH BRECHT, das 1989 auf dem hinteren Umschlag des letzten Band der TEXTE im Rotbuchverlag erschien: „DAILY NEWS NACH BRECHT/ 1989/ Die ausgerissenen Fingernägel des Janos Kadar/ Der die Panzer gegen sein Volk rief als es anfing/ Seine Genossen Foltrer an den Füßen Aufzuhängen/ Sein Sterben als der Verratne Imre Nagy/ Ausgegraben wurde oder der Rest von ihm/ BONES AND SHOES Das Fernsehen war dabei/ Verscharrt mit dem Gesicht zur Erde 1956/ WIR DIE DEN BODEN BEREITEN WOLLTEN FÜR FREUNDLICHKEIT/ Wieviel Erde werden wir fressen müssen/ Mit dem Blutgeschmack unsrer Opfer/ Auf dem Weg in die bessere Zukunft/ Oder in keine/ Wenn wir sie ausspein“
Im Folgenden eine Paraphrase, die sehr eng der Lesekunst von Barbara Hahn zu diesem Gedicht folgt: NACH BRECHT. Heißt das in der Weise von Brecht, gemäß Brecht ODER einfach zeitlich nach Brecht, nach ihm in einer Zeit, zu der er keinen Zugang mehr hat? DAILY NEWS. Tagesnachrichten, die Pest täglicher Nachrichten, die auch noch die größte Katastrophe auf menschliches Versagen und persönliches Unheil zurechtstutzen. Doch die Namen Janos Kadar und Imre Nagy verweisen auf keine Geschichte im Format solcher Tagesnachrichten. Nominativ sind nicht die Namen verwendet, sondern „die ausgerissenen Fingernägel“ (des Janos Kadar) und „sein Sterben“ (als der verratene Imre Nagy). Der Satz schließt sich zudem nicht zu einem ganzen Satz. Kein Punkt. Es ist vielleicht ein Blick, der diese Satzanfänge leitet, ein innerer Blick, der unser Zuhören auf ein Unnennbares hin lenkt: auf die Gewalt, die diesem Menschen angetan wurde. Erst danach – im Relativsatz – ein Hinweis auf den Hintergrund dieser Tat. Er rief die Panzer gegen ein gewalttätiges Volk. Ein Volk, das seine Gewalt gegen die Gewalt seiner Folterer richtete. Ein Volk, das gewaltsam auf Gewalt reagierte. Es hängte seine Folterer an den Füßen auf. In dieser Serie von Gewalt – kein Ausweg und kein Ende. Am Ende des Gedichts steht kein Punkt. Aber deswegen noch lange kein offenes Ende. Die letzten Zeilen nehmen die Frage nach der Zukunft auf und beharren darauf, dass wir in dieser Serie der Gewalt stehen und uns in ihr verhalten müssen. Es gibt keine „bessere Zukunft“, wenn wir das Erbe der zerschlagenen Revolution nicht antreten. Wenn wir die Erde mit dem Blutgeschmack unserer Opfer ausspein, wenn wir sie nicht haben wollen, wenn wir uns vor ihr ekeln, dann wird an Stelle einer „besseren Zukunft“ nicht einfach eine andere kommen, sondern keine.
NACH BRECHT. Der Boden für Freundlichkeit, von dem Brecht sagt, dass er Unfreundlichkeit von jenen verlangte, die für ihn stritten, hat sich in Erde verwandelt, in die die Spuren von Gewalt eingesickert sind. Gewalt, die WIR zu verantworten haben, heißt es in dem Gedicht. Welches WIR? Brecht und die schreibende Stimme? WIR, die wir dieses Gedicht lesen, hören und behutsam mit ihm umgehen, so als gäbe es eine Musik oder ein Zeremoniell hinter den Worten und als wären die Worte nur in dieser Weise geschrieben und da, um von ihnen ausgehend ein bestimmtes Bild zusammen zu setzen, ein Bild, das auf keiner Fläche abgebildet werden kann? Wesentlich scheint mir, dass dieses WIR – sind das Wir? – im Zusammenhang mit dem „Boden“ auftaucht. Der Boden, der im Falle von Brechts Gedicht AN DIE NACHGEBORENEN noch ein Boden war, der für etwas zu bereiten war, was Brecht den Boden für Freundlichkeit nannte und von dem er im Sinne einer Nachricht an die Nachgeborenen in seinem Gedicht handelte. Es kommen welche nach, es gibt ein Erbe, es gibt eine Erfahrung, namens Brecht, die er an die Adresse der Nachgeborenen weitergibt. Diese Kette der Generationen ist wie jede generative Kette verknüpft mit einer Frage des Bodens. Für die Nachgeborenen wird ein Boden bestellt, ein Haus bereitet, ein Erbe zusammengetragen. Die „Freundlichkeit“ ist ein anderer Name für Bewohnbarkeit. Sie ist bei Brecht noch ein Auftrag, in den er sich gestellt sah, so dass er ihn im Sinne einer Botschaft weiter zu geben trachtete.
Bei Müller heißt es „Erde“ anstelle von „Boden“ wie im groß geschriebenen Brecht-Zitat, an welches unmittelbar die Frage anschließt: Wieviel Erde mit dem Blutgeschmack unserer Opfer werden wir noch fressen müssen? Diese Erde ist Teil einer Landschaft des Todes. Sie trägt keine Möglichkeit zu einer Botschaft mehr. Sie ist gleichzeitig viel schwieriger und viel einfacher als der, wie immer auch unvollkommen gestaltete Boden Brechts. Es bleibt dem WIR, das uns jetzt einschließt, nur die Alternative: fressen oder ausspein. Indem wir diese Frage und diese Alternative teilen, entsteht das WIR. Wir teilen eine Frage anstelle einer Botschaft. Die Frage ist zugleich sinnbildlich und ganz konkret eine Frage der Erde. Eine Frage der Erde nach, seit Brecht, die ihrer Beschreibung harrt.


2. GEOGRAPHIE
Germania schreibt Müller im Titel seiner Germania-Stücke. Das Rotbuch, in dem GERMANIA TOD IN BERLIN 1977 zum ersten Mal veröffentlicht wird, trägt auf dem hinteren Buchumschlag einen Lexikonauszug zum Wortfeld Germane gleich neben einem anderen, der nur im Anschnitt zu sehen ist, zum Wortfeld Geo. Durch diese Koppelung können die Germania-Stücke als Versuch zur Erkundung einer Geographie gelesen werden, die die Gestalt der Erdoberfläche beschreibt, welche wir als Boden bezeichnen. Von der Möglichkeit zur Bestimmung dieses Bodens hängt die Möglichkeit des Chores ab. Germania heißt im Fall seiner lateinischen Wortwurzel Deutschland, im Spanischen bezeichnet dasselbe Wort das Rotwelsch oder Kauderwelsch, die Sprache der Gauner. Germanen aber, heißt es im selben Lexikonartikel von lateinisch Germani, einer von den Galliern gebrauchten Benennung der alten Deutschen, bezeichne eigentlich Grenznachbarn. Wo liegt Deutschland?
Die Frage, wo Deutschland liegt, nimmt in Müllers Reflexionen eine Gestalt an, die über die Geographie im bekannten Sinn des Begriffs strikt hinaus trägt, indem sie die Tiefen- und Langzeitwirkungen unter der wechselnden Gestalt von Grenzen und Landschaften in den Blick nimmt. Das Wort Grenznachbarn führt nachbarlich einen anderen Begriff, den der Mitte mit sich. An ihre Koordinaten scheint Deutschlands Problem wie auf das Rad geflochten. Entweder waren Deutsche in Deutschland immer nur Grenznachbarn oder immer nur Mitte. Beide Existenzformen waren fatal und offenbarten, dass beiden Formen – einer Grenznachbarschaft ohne Mitte oder einer mit sich selbst vereinten ausschließlichen Mitte – keinerlei Bindekraft innewohnte, sondern eine verheerende Leere. Die Spuren dieses Befundes ziehen sich durch Müllers Texte, seit sie die Frage nach Deutschland aufwerfen.
In einem Gespräch aus dem Jahr 1993 hält Müller fest: „Das Problem ist doch, [...] daß auch hinter Deutschland nichts steckt, bzw. das Nichts, daß das metaphysische Äquivalent nicht mehr existiert. Deutschland gibt es nicht“. Das metaphysische Äquivalent Deutschland, das Energien zu kreieren und zu bündeln vermag, die für ein besseres Deutschland einstehen, ist schon seit langem deformiert: „Für Kleist war Deutschland noch eine Idee, eine Utopie“, hält Müller fest. „Nach dem ersten Weltkrieg war die Idee verstümmelt. Mit Hitler nutzte sie nur noch zur Bindung suizidärer Energien.“ Entsprechend der raschen Niederlage einer von Beginn an durch Schwäche gekennzeichneten Idee Deutschland sind die Versuche der Unionswerdung Deutschlands von vernichtender Gewalt begleitet – wobei ‚begleitet’ der falsche Ausdruck ist: Deutschlands Unionsbestrebungen bringen Gewalt hervor. Sie erzeugen sie.
Die späte, von Bismarck geprägte deutsche Reichsgründung steht im Zusammenhang mit der Rolle Deutschlands im Ersten Weltkrieg, die großdeutsche Reichsbildung Hitlers gebiert das staatsrassistische Verbrechen gegen die Juden. Nach dem zweiten Weltkrieg ist die Welt in einen Illusionsraum Kapitalismus und einen Illusionsraum Sozialismus mitten in Deutschland sauber geteilt. Germania, was zugleich Deutschland und die Rotwelschsprache der Rebellion bedeutet, ist tot in Berlin. Es beginnt die lange Zeit, in der man, wie Müller sagt, „im DDR-Illusionsraum dachte [...]: ‚Eines Tages kriegen wir die andere Hälfte auch noch’“ und hinzusetzt: „Im Westen dachte man genauso.“ So sehnten sich die beiden Teile je nach Einverleibung des anderen, nach Immobilien, Konsumgütern und einem anderen, unterschiedlich pervertierten Wozu. Wesentlich ist, dass das wechselseitige Bestreben der Deutschen nach Union, das sich 1989 als Währungsunion realisierte, wiederum mit Vernichtung einhergeht. „Jetzt findet die Vereinigung als Verschwinden beider Teile statt.“ Deutschland, das schon so lange eine Chimäre war und das nur zusammengehalten wurde in der Figur, die Müller zum Anlass einer Szene in seinem letzten Stück GERMANIA 3 GESPENSTER AM TOTEN MANN macht – Hitler und Stalin schieben Wache an der Berliner Mauer – Deutschland ist ortlos seit langem. Und als sich die beiden Teile 1989 nach ihrem Erbe umsahen, sahen sie, dass da nichts war, von dem sie in ihrem Illusionsraum geträumt hatten, sondern das Nichts. Die gesamten Unionsbestrebungen und die ihnen inhärente Gewalt hatten nichts transportiert, keine Idee Deutschland, kein besseres Deutschland, kein vereinigtes Deutschland. „Es ist“, schreibt Müller, „was Hölderlin in den Anmerkungen zu ÖDIPUS und ANTIGONE einen ‚leeren Transport’ nennt. ‚Der tragische Transport ist recht eigentlich leer.’ Es gibt nur noch Märkte, und dadurch entsteht eine ungeheure Leere. Die Frage ist, ob der Mensch das aushält.“
Der leere, tragische Transport galt einer Idee, die erstens nur eine Idee war, also nur in dem Maß Bestand haben konnte, wie ihr Glauben geschenkt wurde und die es zweitens nicht mehr gab, weil ihre metaphysischen Reserven sich im langen 19. Jahrhundert verbraucht hatten. Nach einer kurzen, heftigen Blüte, die mit dem Namen Kleist zusammenfällt, ist ihr Verschwinden nur in Ausnahmefällen bemerkt worden, so etwa bei Heinrich Heine und Dostojewski, die das Nichts auf dem Grund gesellschaftlicher Projekte sahen, sobald sich die Idee des Volkes von derjenigen des Gottes getrennt hatte. Nach dem 11. September 2001 erschien ein Bericht über eine Dostojewski-Konferenz in Frankreich unter dem Titel DOSTOJEWSKI IN MANHATTAN – das ist die Tiefenlinie der Zusammenhänge, denen Müller in diesem Gespräch aus dem Jahr 1993 mit dem Titel FÜR IMMER HOLLYWOOD nachspürt. Dabei spricht er, mit Foucault, von der Modellierung Europas durch die römische Souveränitätsgeschichte und von der deutschen Sehnsucht nach „einer strahlenden Königsfigur“, die es nie gab, die aber als „aufgestaute kollektive Kindersehnsucht“ in den Glauben an Hitler, den Kult um Stalin und die Ikonisierung von Lenin einwachsen konnte und jene Geschichte machte, die der Gegenstand von Schulbüchern ist. Geschichte, die von Illusionsräumen ausgeht, von Ikonen, Kultfiguren, in der Funktionäre Worthülsen für die Sache nehmen und permanent Veränderungen betreiben im Namen einer Sache, die es nicht mehr gibt. Dieser Art ist der Transport, der Leere ausbreitet. Der leere Transport im Namen Deutschland realisiert Deutschland als Markt unter Märkten und deren gesteigerte, ungeheure Leere. Dabei geht es nicht um ein Verhältnis der Beschwörung oder Verwandtschaft, sondern um eine Art vorauseilendes Double, das zugunsten seiner größeren Ausbreitung verschwindet. Das vermeintlich Neue, der Zustand nach 1989, der alle ‚viel zu schnell’ überrascht hat, konnte nur eintreten, weil er schon Realität war. In der Währungsunion kollabiert der Unionsgedanke. Diese Vorgänge überschreiten jede herkömmliche Geographie. 1989 verlangt, anstelle von Grenzen, geteilten Ländern und Kalten Kriegen in einer geteilten Welt die Logik der Grenzen als Teil einer anderen GEOGRAPHIE zu begreifen, einer anderen Inschrift der Erde. Diese bemisst sich nicht nach den Oberflächendaten einer Souveränitätsgeschichte oder einer Gegenhistorie, sondern spürt in all den Veränderungen, die mit Jahreszahlen belegt werden können, die grundlegendere Zusammenhangsform der Gewalt auf.
1989 erscheint Müllers ANATOMIE TITUS FALL OF ROME EIN SHAKESPEAREKOMMENTAR. Rom fällt, weil es einer barbarischen Gotenkönigin gelingt, sich als Kaiserin von Rom im Herzen der Macht zu installieren und von dort aus die Vernichtung der romtreuen Androniken zu betreiben, was ihren eigenen Untergang mit einschließt. Die römische Souveränitätsgeschichte ist nicht zu erobern, sie kollabiert. „Der Gote ist ein Neger ist ein Jude“, heißt es im Text, der mit einem in Versalien gesetzten Block schließt, in dem es heißt: „WÄHREND DER NEGER IN DIE ERDE/ WÄCHST/ VERWANDELT LANGSAM VOM GEWÜRM/ DER TIEFE/ IN STAUB DER SICH ZUR WÜSTE SAMMELT/ UND/ WÄCHST ÜBER ROM/ SCHLAGEN DIE GOTEN DIE HAUPTSTADT/ DER WELT/ MIT PFEILGEWITTERN AN DAS KREUZ/ DES SÜDENS/ AUS MASSENGRÄBERN LAUTLOS/ APPLAUDIERT/ IM SPATENKLIRRN DER ARCHÄOLOGIE/ FEIERT DAS MESSER HOCHZEIT MIT DER/ WUNDE“. Die sauber geteilte Welt auf der einen Seite die Folge der römischen Kaiser in der HAUPTSTADT DER WELT, auf der anderen Seite die immer ausgeschlossenen, immer angrenzenden Barbaren – sie verwandelt sich zur Erde, in der die Spuren von Gewalt sich zu einer Wüste auswachsen, die irgendwann einmal auch über Rom wachsen wird. Die „Hochzeit des Messers mit der Wunde“ lautet bei Müller die Formel für diesen Zusammenhang, der zählt.
In dem zitierten Gespräch aus dem Jahr 1993 bezieht sich Müller anlässlich der These von Rufin, dass die Römer nach dem Fall von Karthago einen neuen Feind erfinden mussten, um das Gleichgewicht zu halten, noch einmal auf das Beispiel Rom. „Plötzlich war Rom allein auf der Welt. [...] Da war der Limes eine stabilisierende Erfindung. Ab und zu machte man eine Strafexpedition in den germanischen Urwald. Dann zog man sich wieder hinter dem Limes zurück. Die Parallele zu heute liegt auf der Hand.“ GEOGRAPHIE, die keine Geschichte der Grenzen mehr im Blick hat, geht vom Sichtbaren ins Unsichtbare über. Sie sieht den Toten ins Auge.


3. DIE REISE / LANDSCHAFT DER TOTEN
„Landschaft“ im Sinne der Übertragung des Titels BILDBESCHREIBUNG als PAYSAGE SUR SURVEILLANCE durch Jean Jourdheuil: Landschaft unter Überwachung. „Landschaft“ im Sinne der Anmerkung Müllers zu VERKOMMENES UFER: „Wie in jeder Landschaft ist das Ich in diesem Textteil kollektiv“, die er später kommentiert: „Die Landschaft dauert länger als das Individuum. Inzwischen wartet sie auf das Verschwinden des Menschen, der sie verwüstet ohne Rücksicht auf seine Zukunft als Gattungswesen.“ Die Landschaft gehört zum Chor, der Chor zur Landschaft, die gesättigt ist von unzähligen ‚Hochzeiten, die das Messer mit der Wunde feierte’. Gegen die Vereinnahmung durch staatliche Maschinen, die „auch die Toten noch im Griff“ halten möchten, geht es Müller um „die Überlegenheit der Toten“, um die mit den Toten begrabenen, aber deswegen nicht endenden und erledigten Träume, Traumata, Wunden. „Nur mit den Toten kann man die Welt aus den Angeln heben, denn sie selber bewegen sich nicht. Zugleich ist die Hoffnung darin enthalten, dass die Grenze zwischen Lebenden und Toten porös wird. Wenn der Zweifel an der Veränderbarkeit der Welt wächst, verstärkt sich der Wunsch, mit den Toten Kontakt aufzunehmen.“ Die Landschaft ist verkommen wie in VERKOMMENES UFER. Konsum- und Industriemüll bedeckten die Orte, die früher einmal besungen wurden und zur romantischen Besiegelung von Beziehungen taugten. Die Ufer des Sees bei Strausberg, der am Beginn des Textes genannt wird, haben inzwischen die Toten der letzten großen Panzerschlacht des Zweiten Weltkriegs gesehen, bei Strausberg lag auch das Hauptquartier der NVA. Die Dialoge des Paares, das einen Ausflug zu diesen Ufern unternimmt, sind „fast das Stenogramm eines Ehestreits im letzten Stadium“. Die Landschaft trägt die Figuren nicht mehr, und die von ihnen gewünschten Bündnisse haben keine Zukunft.
Zum Zusammenhang von Figur und Landschaft weiß wohl das Nô-Theater am meisten, das Müller wiederholt beschäftigt hat. Es beruht auf der Annahme, dass die Landschaft die Figur begründet und zwar so sehr, dass alle äußeren Begebenheiten einer Landschaft – Wind kommt vom Berg. Schnee kommt hinter dem Wind. Ich höre, wie die Flut den Strand berennt. –unmittelbar die Figur ausdrücken. Eine Figur, die im Nô-Spiel immer schon gestorben ist. Das Theater gilt ihren untoten Schatten, ihren Masken ohne Substanz, ihrem geister- oder gespensterhaften Nachleben, in das sie zurückkehren, um eine Geste des Ausgleichs zu vollziehen. 1951 hat Müller ein Nô-Spiel unter dem Titel DIE REISE bearbeitet, aus dem die oben genannten landschaftlichen Vorgänge zitiert sind. Sie werden von dem gefallenen Krieger Kagekiyo gesprochen, der daran anschließt: „Ich hörte es, als ich für Heike in die Schlacht ging und nach der Schlacht.“ Die Landschaft ist Zeuge der Figur. Ihre Zeugenschaft dauert an, in ihrer Zeugenschaft überdauert die Figur und eignet sich zur ‚poröse Grenze zwischen Lebenden und Toten’. Kagekiyo wird von seiner Tochter Hitomaru aufgesucht, die kein Bild von ihrem Vater hat, ihn noch nie gesehen hat. Sie macht sich auf die beschwerliche Reise, um ihren Vater zu treffen, der sich zunächst weigert, sie wieder zu erkennen und sich nur zögernd, durch die Vermittlung eines Holzfällers, darauf einlässt, seiner Tochter die Geschichte seiner Heldentaten und seiner Verbannung zu erzählen. Der Schatten des großen alten Kriegers siecht, ihm füllt „das vergossene Blut nicht die Backen“. Soll sie bei ihm bleiben oder gehen? Hitomaru schweigt. In Müllers Stück sagt Kagekiyo: „Ich bin bedeckt mit Grind und Schande. Sie ist jung.“ Hitomaru wird gehen. Sie wird ihr junges Leben und ihre Liebe zu ihrem Vater nicht durch eine sentimentale Geste der Unterwerfung unter das Los der Verbannten entwerten.
Das Nô-Theater wird im 14. Jahrhundert begründet. Es ist etwa derselbe Zeitraum, in dem Vorhüter der abendländischen Renaissance an einer allmählichen Isolation der Figur von ihrem Grund arbeiten, die im 15. Jahrhundert vervollkommnet ist. Seither bildet die Landschaft nicht mehr den Grund für die Figur. Das Nô-Spiel lässt sich nicht kopieren.
Aber es ist da diese Porösität, dieses Gleiten zwischen Sichtbarem und Unsichtbaren, die Nicht-Anerkennung der Grenze zwischen Toten und Lebenden, die Anerkennung der Untoten, ihre Anerkennung im Zeichen der verkommenen Landschaft, die von ihnen zeugt, ihre Anerkennung, indem wir die Erde mit dem Blutgeschmack unserer Opfer nicht ausspein – es ist diese Porösität, in der eine Sehnsucht nach Gastfreundschaft mit den Toten spürbar ist, in der Sühne möglich wäre, ein Ausgleich. Die Bewegung eines unmöglichen Ausgleichs, wie sie auch in den abschließenden Zeilen von ANATOMIE TITUS auftaucht, als sein unmöglicher, nicht durch einen Punkt zu beendender Schluss. Die Hochzeit des Messers mit der Wunde geht über in einen Tanz auf der Asche Roms. „DER SLOWFOX FÄRBT IM TAKT DEN HIMMEL GRAU/ DER UNTEN AUFSCHEINT SCHWARZ UND OHNE GRUND/ BIS PFEIFEND ÜBERM LETZTEN HAPPYEND/ DIE FALLE WELT SICH SCHLIESST DAS FIRMAMENT.“


4. AUSREISEN
„SEHEN HEISST DIE BILDER TÖTEN“ lautet ein Satz, ebenfalls in ANATOMIE TITUS, der auf die EPOCHE DES TOURISMUS bezogen ist. DIE REISE aus dem Jahr 1951 vollzieht einen Bruch mit dieser touristischen Epoche, die sich von einer kindlichen Vorstellung der Geographie leiten ließ. Die Reise in das Nichtsehen ist dennoch nicht bilderlos. Texte, die sich einer Reise in die Porösität der Grenze zwischen Lebenden und Toten verschreiben, werden eher gehört als gesehen – genau wie der Chor. Sie sind deswegen nicht bilderlos, genau wie der Chor, der nicht mit Bildern von sich handelt, sondern mit gesprochener Sprache. Im Hören auf Texte, die Reisen wie diejenige aus dem Jahr 1951 beschreiben, entstehen ungesehene Bilder, in deren Konstruktion wir hörend involviert sind, deren unfertige Existenz in uns eingeschlossen ist und mit unserer Existenz zusammenfällt.
Jede Reise vermischt sich mit einer grundlegenderen Ausreise. In MAUSER beschreibt das revolutionäre Unternehmen jene Reise, die hier in der Stadt Witebsk anzutreffen ist, die für alle Orte steht usw. Die Passagen, in denen sich Reise und Ausreise paaren, werden entweder von A (CHOR) oder von (CHOR) A gesprochen, wie diese letzten Zeilen von (CHOR) A:
„Und er fragte nicht mehr/ Sondern ging zur Wand und sprach das Kommando/ Wissend, das tägliche Brot der Revolution/ Ist der Tod ihrer Feinde, wissend, das Gras noch/ Müssen wir ausreißen, damit es grün bleibt.“


In AUSREISEN 2 / 3 / 4 / 5, die sich als Typoskript wie ein Bild in den Text von ANATOMIE TITUS eingestreut finden, heißt es: „NACHTZUG BERLINFRIEDRICHSTRASSE FRANKFURTMAIN/ Nach der Fahrt durch die lichtlose Heimat der Haß auf die Lampen./ Daß die Leiche so bunt ist! ICH BIN DER TOD KOMM AUS ASIEN/ Bei der Vorbeifahrt am Schlosspark Charlottenburg plötzlich die Trauer/ GRÜN IST DIE FARBE DES UNHEILS Die Bäume gehören den Toten“ GRÜN ist die Farbe des Risses, den die Reise zu überqueren gedenkt wie eine Grenze. Das revolutionäre Unernehmen begreift seine Reise als Arbeit. „DAMIT ETWAS KOMMT MUSS ETWAS GEHEN“ Das Gras muss ausgerissen werden, damit es grün bleibt. Aber mit der Arbeit an dieser Grenze und in ihr wird die Verkettung mit einer anderen Grenze gewonnen, so dass sich diese Arbeit des Kollektivs niemals abschließen lässt, sondern es ‚gezwungen war ist sein wird’, mit seiner Arbeit des Tötens fortzufahren.
Von der Verkettung mit dieser anderen Grenze spricht der Chor, indem er von Kagekiyo in DIE REISE 1951 sagt: „Seht den Gefürchteten/ Seht das Knochenbündel!/ Sein Schwert ist zerbrochen./ Sein Schwert/ Hat ihn zerbrochen.“ „Die Grenze passiert den Körper, der sie überquert“. In der Passage schließen sich das Schwert und die Wunde, die es schlug, zusammen und zerbrechen den, der es führte. „Die Bäume gehören den Toten“. Das ist die Figur der Ausreise. Die Reise, die Grenzen passiert, die Grenzen überschreiten will, die im Namen des Lebens das Gras ausreißt (wie es auf eine sehr sublime und hybride Weise auch Hitomaru tut), gewinnt die Figur der Ausreise. Das ist auch der Gegenstand von MAUSER: Wie eine Reise umschlagen kann in die Ausreise, dargestellt am Beispiel von A, der den Auftrag des Tötens als Auftrag verrät, indem er die Grenze zwischen diesem und dem irreversiblen Unrecht des Mords vergisst. AUSREISE 2 im Typoskript wie ein Bild inmitten von ANATOMIE TITUS lautet: „ZAHLFÄULE IN PARIS/ Etwas frisst an mir/ Ich rauche zu viel/ Ich trinke zu viel/ Ich sterbe zu langsam“.


Texte, die derartige Zusammenhänge in Erwägung ziehen, kommen nicht aus einem Mund. Sie sind das Gegenteil von mündlicher Rede, von daily news. Sie werden geschrieben, setzen sich sprunghaft zusammen. Nicht am Computer und auch nicht an der Schreibmaschine, sondern in einer Handschrift, welche die „Handschrift seiner Arbeiten und Tode ist“, wie es im Hydratext heißt, der MAUSER als „Material“ zugeordnet ist. Ihnen entspricht in Gänze ein Sprechen, das nicht aus einem Mund kommt, ein vielfältig geschichtetes und mit dem Sprechenden selbst uneiniges Sprechen ohne Ende ohne Anfang. Dieses Sprechen wäre das Gegenteil eines unermüdlichen Kommentars. Weder würde es in der Begleitung anderer, noch im Ausdruck vorgängiger Inhalte bestehen. Vielmehr würde es sich in der Erfahrung des Sprechens als einer Praxis vollziehen und dabei eine Struktur entdecken, die der Figur des Chores entspricht.


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