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taz, 04.06.2004

BRUTALE NÄHE
Von Katrin Jäger

Zwischen Empathie und Distanzierung: Claudia Bosse treibt in ihrer Inszenierung von Heiner Müllers "Mauser" auf Kampnagel das Publikum vor sich her und erschafft einen fast sakralen Raum.

Auf allen Vieren schleicht die junge Frau an eine andere heran. Die sitzt auf einem pastellblauen Hocker, vertieft in Heiner Müllers Mauser-Text. Ganz nah kommt die Schleichende, unangenehm nah, sodass ihr feuchter Atem die Wade der Lesenden streift, vor allem, als sie beginnt, formal und dennoch eindringlich, das zu zitieren, was die Sitzende liest: "Wir töteten ihn, mit meiner Hand. Und der Mund, mit dem ich redete zu ihnen war der Revolver und mein Wort die Kugel. Und es war eine Arbeit wie jede andere." Immer hastiger schleudert die Vierbeinige die bekennenden Worte eines Mitmachers heraus. Erst hält die andere die Bedrängnis mit gespielter Teilnahmslosigkeit aus. Plötzlich wendet sie den Blick ab, flüchtet in den weiten Kampnagelraum.

Die Fliehende ist als Zuschauerin zu Heiner Müllers Revolutionsstück Mauser gekommen, das am Mittwoch auf Kampnagel Premiere hatte. Doch die Regisseurin Claudia Bosse ist gnadenlos, mit ihr und allen anderen, die anfangs ganz selbstverständlich ihre Plätze auf der Zuschauertribüne eingenommen haben. Mit den fünfzehn SchauspielerInnen des Nationaltheaters Montenegros und des Wiener theatercombinats treibt sie das Publikum durch die beiden größten Kampnagelräume, die ein breiter Durchgang zu einem arenenhaften Spielfeld verbindet.

Ganz und gar von Licht durchflutet, sprengt dieses Arrangement die Trennung von Akteuren und Publikum, die körperliche Nähe zwingt das Publikum, sich zu positionieren - zu den Darstellenden, zum Raum, zu den eigenen Gefühlen. Ebenso gelungen wie schlicht setzt Claudia Bosse so Heiner Müllers Anweisung um, das Publikum solle die Möglichkeit erhalten "das Spiel am Text zu kontrollieren". Und während einige Zuschauer sich an das Textheft klammern, werden sie ungewollt zu Akteuren seiner theatralen Umsetzung. Malerisch, wie ein junger Mann an der Wand lehnt, mutig, wie eine Frau im Stöckelschritt die Arena durchmisst. Hin- und hergerissen zwischen Teilnahme und Distanzierung, und damit empathisch verbunden mit dem namenlosen Helden aus Mauser: Einerseits steht er zur Arbeiterrevolution. Andererseits will er nicht mehr töten. Mit der Konsequenz, dass er nach der Revolutionslogik selbst zum Feind wird und damit zu töten ist.

Die SchauspielerInnen strömen als entindividualisierte Masse über das Feld, heben ihre Stimmen zu einem Chor serbisch-englisch-deutscher Mauser-Lithurgie, verwandeln die Halle in einen sakralen Raum. Es ist kein Heldenlied auf die Revolution, das sie da singen. Sie skandieren, flüstern, brüllen und zitieren Müllers Text als brutale, weil direkte Konfrontation mit dem Töten und dem Sterben. "Von trägen Beamten lustlos gefoltert, erfuhr ich nichts über das Leben nach dem Tod", raunt eine Männerstimme. Dann wieder Schweigen, wie so oft in diesen zwei Stunden. Kein Angebot, wie umzugehen mit dieser Wortwaffe.Natürlich könnten sich jetzt die Zuschauer zusammentun und über Bilder in ihren Köpfen ins Gespräch kommen, gerade jetzt, wo alle die Folterungen im Irak mit sich herumtragen. Doch die Zuschauer schweigen mit, passen sich so einerseits den unausgesprochenen Regeln der Theaterlogik an, vollziehen andererseits den Mauser-immanenten Konflikt zwischen schweigender Anpassung und dem Bedürfnis, von der Regel abzuweichen, nach.

Dieses Schweigen ist Voraussetzung für die vielstimmige Deutung des Texts entspricht Heiner Müllers Theaterverständnis. Ebenso der Rhythmus aus Worten, dem Rennen, des Sprungs gegen die Wand samt Klatschen auf den harten Steinboden. Der dem Stück vorangestellte Vortrag des Bochumer Theaterwissenschaftlers Nikolaus Müller-Schöll über das Schweigen und den Rhythmus in Heiner Müllers Texten verhalf zu einer verfeinerten Rezeption dieser dichten Inszenierung.

Weitere Vorstellungen: 4. + 5. 6., 20 Uhr, Kampnagel. Vortrag jeweils um 19.30 Uhr.

http://www.taz.de/?id=archivseite&dig=2004/06/04/a0277


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kieler nachrichten, 05.06.2004

EINÜBUNG IN DAS STERBEN
Von Klaus Witzeling

"mauser" beendet die Kampnagel-Reihe "an die nachgeborenen"

"Theater ist eine Beziehung zwischen Körpern und nicht zwischen Köpfen." Die Regisseurin claudia bosse nahm bei ihrem mauser-projekt mit dem theatercombinat wien und dem nationaltheater montenegro den autor heiner müller beim wort. sie inszenierte heiner müllers 1970 entstandenen text, der sich kritisch mit brechts lehrstück-theorie und dem töten im namen der revolutionsideologie beschäftigt, als text-partitur in einer eindrucksvollen raum-choreographie. nach den aufführungen in einem schwimmbad von podgorica hatte die koproduktion in der kampnagel-fabrik hamburg und beschließt die programm-reihe "an die nachgeborenen", in der osteuropäische und deutsche künstler gemeinsam nach zeitgemäßen formen des politischen theaters suchten.schon zu beginn verkehren sich gewohnte theatergesetze. die spieler erwarten ihr publikum auf der zuschauertribüne. die zuschauer sehen sich unversehens und verloren auf der bühne der riesigen halle 6 ausgesetzt. völlig offen liegen im arbeitslicht die strukturen des mächtigen industriebaus. schon ein schau-spiel.

müllers text über die revolution trifft auf die geschichte der fabrik und der arbeiterbewegung. ohne die übliche belehrende illustration oder besserwisserische interpretation.die worte werden gemurmelt, geschrieen oder chorisch skandiert: auf deutsch, englisch oder montenegrinisch. in den hallen ertönen sie oft wie musik, eine sprache widerhallt im fremdartigen echo der anderen. der text bewahrt seine eigene wirklichkeit und zeit, überkreuzt sich mit der historischen und der gegenwärtigen von spielern und zuschauern. auch sie bewegen sich frei im raum, werden zu mitspielern, ohne mitzuspielen.das komplexe textgewebe vermittelt sich auf sinnliche weise und wird im zuhörer lebdendig. obwohl oft nicht zu verstehen, lösen die wort-fetzen assoziationen, innere bilder und erinnerungen aus. der einzelne zuschauer steht plötzlich der gruppe von spielern gegenüber. als fremder, als außenseiter. die entfremdung des arbeiters, die entfremdung vom körper, die angst vor dem fremden und die gewalt gegenüber den fremden fallen in eins. die worte erzeugen im reden und gegen-die-wände-anrennen einen neuen vielschichtigen text, der letztlich eine einübung ins sterben ist. auch eine anklage. wenn sich körper wie leichenhaufen in einer ecke schichten. wenn sie starr ausgerichtet am boden liegen. aufgereihte tote, vergaste opfer oder noch im tod strammstehende täter? die bilder von nazi-zeit, bosnien-krieg, irak-invasion, aus vergangenheit und gegenwart überlagern sich. bosse schafft raum für ein politisch motiviertes, doch keineswegs belehrendes, jenseits medialer oberflächlichkeit lebendiges theater-erleben. indem sie in der zweistündigen inszenierung eine spannungsvolle, visuell suggestive struktur webt: aus den elementen reduktion und wiederholung, aus musikalischer rhythmuswechseln zwischen lähmender stille und markerschütterndem schrei, aus der ballung und vereinzelung von körpern, ihrem erstarren, rasen, fallen. ein so gelungener wie einprägsamer höhepunkt für die ambitionierte reihe "an die nachgeborenen".



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