massakermykene

frankfurter rundschau 4/2001, dirk baecker

    Grammatik der Leerstellen oder Konzentriertes Theater
Eine Anmerkung zu den Proben von "masssakermykene",
Schlachthof St. Marx, Wien, Oktober 2000,
theatercombinat Claudia Bosse und Josef Szeiler
Dirk Baecker
Frankfurter Rundschau vom 20. April 2001, S. 19

Seit dem Tod von Heiner Müller gibt es kaum noch Gründe für Theoretiker, ins Theater zu gehen. Sie gehen ins Kino oder, wie Alexander Kluge, in die Oper. Das muß verwundern, wenn man bedenkt, daß Brechts Verfremdung und Artauds Grausamkeit zu den großen und radikalen Einsprüchen gegen die Gesellschaft. Ist die Verfremdung mittlerweile so sehr zum Element noch der trivialsten Selbststilisierung geworden, daß es keinen Grund mehr gibt, sie sich auf der Bühne anzuschauen? Ist der "Tanz der menschlichen Anatomie", den Artaud beschworen hat, mittlerweile so sehr Alltag im Guten und Schlechten, auf den Rollbahnen der skateboards wie in den Labors der Gentechnik, daß der Umgang des Theaters mit dem menschlichen Körper nun wirklich niemanden mehr ins Theater locken kann? Haben wir es mit einer Kunstgattung zu tun, die sich selbst so sehr überholt hat, daß ihr weder die Erinnerung an die den Kreislauf der Gewalt bannenden Tragödien der Griechen noch die Erinnerung an das Theater als moralische Anstalt seligen Weimarer Angedenkens noch auf die Beine helfen kann?

Aber was beschäftigt dann die vielen freien Theater, die zwischen performance, Kleinkunst, Happening, Multimedia, Kult und Selbsterfahrung immer wieder neu das Theater beleben und immer wieder neu nicht nur Schauspieler und Regisseure, sondern sogar Autoren finden? Und wieso kann ein so wegweisender Theoretiker wie Joseph Vogl von der Bauhaus Universität Weimar nach wie vor beim Reden vom Theater ins Schwärmen geraten und einen großen Bogen schlagen von Schiller bis heute, wenn er von der Geburt des Theaters aus dem Geist der Polizei spricht und darunter jene Policey versteht, die noch Politik und Polizei in einem war? Wäre das Theater nach wie vor in der Lage, wie es ihm René Girard zugemutet hat, Beobachtung des Verhaltens und Regulierung des Verhaltens in einem zu sein? Wäre es nach wie vor auf jenem Marktplatz zuhause, auf dem einst auch der Handel, nicht weniger beunruhigend als das Theater, unter obrigkeitliche Aufsicht gestellt worden war?

Die Fragen sind zu radikal, zu großformatig gestellt, um sie beantworten zu können. Aber sie deuten doch an, daß es sich lohnen könnte, in ihrem Umkreis wieder einmal die eine oder andere Beobachtung anzustellen.

Ich will das im folgenden nur an einem Beispiel und hier auch nur an einem engen Ausschnitt dieses Beispiels tun. Ich will Überlegungen anstellen, die sich mit der Beobachtung eines spezifischen Raumes durch die Theaterarbeit von Claudia Bosse und Josef Szeiler im vergangenen Jahr im ehemaligen Schlachthof St. Marx in Wien beschäftigen. Ich will behaupten, daß diese Theaterarbeit, die einen knapp einjährigen Probenprozeß mit einer einmaligen Aufführung des "Stücks" beendete, auch etwas mit der Bestandsaufnahme eines Raumes zu tun hatte und damit mit dem Versuch, herauszufinden, was uns ein Raum bedeuten kann. Ich will behaupten, daß diese unter dem Namen "massakermykene" auch im web dokumentierte Arbeit (www.consyder.com/massakermykene/index.html) als eine kognitive Operation beschrieben werden kann, die weniger ein Experiment mit einem Raum ist, als vielmehr als dieses Experiment, echt theatralisch, beobachtet werden will.

Ich beginne diese Überlegung mit einer kurzen Erinnerung an den Stellenwert der Kategorie des Raums in der Wissenschaft.

Seit Kant galt es als ungeschriebenes Gesetz, daß Wissenschaft dort beginnt, wo sie sich in ihren Beschreibungen und Erklärungen der Bezugnahme auf Orte und Eigennamen entschlägt. Seit Turing kann man sich da nicht mehr so sicher sein. Seine Maschine funktioniert nur, wenn sie auf dem zu beschreibenden Band besetzte Plätze und leere Plätze unterscheiden kann. Die besetzten Plätze kann sie löschen, leer lassen oder neu beschreiben; die leeren Plätze kann sie leer lassen oder beschreiben. Seither formuliert die Raumkategorie Möglichkeiten der Besetzung, der Streichung und des Austauschs; dies jedoch strikt im Verhältnis zu einer rechnenden Maschine und zu einem Band, das heißt, allgemeiner formuliert, zu einem Beobachter, der selbst eine Raumstelle besetzt, und zu bereits definierten Nachbarschaftsverhältnissen der Stellen untereinander. Gotthard Günther hat im Anschluß daran eine "Kenogrammatik" entworfen, eine Grammatik der Leerstellen, die es erlaubt, Ordnungs- und Austauschoperationen mathematisch zu beschreiben.

Mit einem Raum läßt sich demnach nur rechnen, wenn er als leer behandelt wird. Das heißt nicht, daß er leer ist. Das heißt jedoch, daß man sich überall dort, wo er wie auch immer besetzt ist, andere Besetzungen vorstellen kann. Man kann sich dort, wo nichts ist, ein Ding vorstellen. Und man kann sich dort, wo ein Ding ist, ein anderes Ding vorstellen. Besetzung und Austausch sind die Operationen, die sich an einem Ort vornehmen lassen. Die Voraussetzung dafür ist die Fähigkeit, dort Leere, also Besetzbarkeit, vorzusehen, wo keine Leere, sondern immer schon etwas ist. Die Leere existiert nicht, sondern sie ist ein Produkt und Korrelat eines Umgangs mit Räumen, der sich von bereits vorhandenen Definitionen nicht davon abhalten läßt, neue Definitionen vorzunehmen.

Vor den Toren der Stadt, wo es "nichts anderes" gibt als Äcker und vielleicht einige Hütten, entsteht ein Schlachthof und versorgt eine Stadt mit dem Fleisch von Rindern, Schweinen und Schafen. Irgendwann wird er nicht mehr gebraucht. Er liegt zu nah an der inzwischen gewachsenen Stadt. Und er entspricht nicht mehr den technologischen Standards und ökonomischen Anforderungen, die an Schlachthöfe im heraufziehenden BSE-Zeitalter gestellt werden. Er wird verlassen und "steht leer".

Aber er steht nicht wirklich leer. Die Gußeisenkonstruktion und die Koppeln stehen herum, in einer durchaus beeindruckenden und "vollen" Realität. Wenn man will, kann man an ihnen nach wie vor die Technologie und Ökonomie des Schlachtens studieren. Wenn man will, kann man sich in den jetzt leeren Koppeln herumgeschobene Viehleiber vorstellen. Man "hört" das Brüllen des Viehs. Man "riecht" die Angst des Viehs. Man "sieht" den professionellen Umgang mit dem Fleisch. Man "studiert" die Abstraktionsleistungen, die der fleischfressende Mensch vorgenommen hat, um sich zum einen mit Nahrung zu versorgen und zum anderen den dazu erforderlichen Tötungsakt auf eine technische Marginalie im klinisch überwachten Prozedere der Fleischherstellung zu reduzieren. Man "begreift", wie Bauern, Metzger und Gourmets das Vieh bereits zerlegt haben, bevor es auch nur geboren ist, und der Schlachthof nur exekutiert, was längst beschlossene Sache ist. Man "erlebt" jedoch auch, daß die Intervention von Technik und Architektur einen Prozeß wieder sichtbar macht, der im Schutz seiner Unsichtbarkeit von dieser Technik und Architektur nur vollzogen werden sollte. Irgendwann wird das Mittel zum Zweck selbst zum Skandal, der emotional nur durch die Nostalgie übertroffen wird, mit der man sich einen Schlachthof anschaut, in dem immerhin noch im handgreiflichen Gemenge zwischen Mensch und Tier ausgetragen wurde, was heute Maschinen überantwortet wird.

Wenn man in diesen Hallen Theater spielt, setzt man das Messer noch einmal an. Man operiert dort, wo man "nichts anderes" vorfindet als die Wirklichkeit eines verlassenen Schlachthofs, mit der Möglichkeit des Theaters. Man "leert" den Raum und "füllt" ihn mit Theater. Aber wie leert man einen solchen Raum? Und wie füllt man ihn?

Was das Kalkül verschweigt, bringt der Prozeß an den Tag. Die Substitution einer Wirklichkeit durch eine Möglichkeit und die Realisierung dieser Möglichkeit durch eine neue Wirklichkeit sind rechnerisch schnell geleistet. Man braucht nur die Augen zu schließen und "sieht" bereits, was möglich ist. Macht man sich dann jedoch ans Werk, stellt man fest, daß die Leere ein mindestens so voraussetzungsvoller Zustand ist wie die Fülle. Einen Raum kann man nur leeren, indem man feststellt, daß er durch Dinge besetzt ist, von denen man nichts ahnte, als man mit der Arbeit begann. Die Wirklichkeit der Leere, wenn es sich nicht um die finale handelt, wird es immer mit den Resten zu tun bekommen, mit der die Wirklichkeit der Wirklichkeit die Leere heimsucht. Man beginnt, einen Raum zu füllen, und stellt fest, wie sich die neue Wirklichkeit der alten anverwandelt. Die Schauspieler bewegen sich wie das Vieh und die Metzger. Sie brüllen, schwitzen, werden klinisch und brutal, leiden und erwerben ungeahnte Kräfte. Da müssen sie durch. Keine Regie kann ihnen sagen, was ihnen hier widerfährt. Aber sie kann sie dabei begleiten, zum Schlächter und Geschlachteten zu werden und sich davon wieder zu befreien, so daß jede Bewegung in diesem Raum von beidem berichtet, von der Wirklichkeit des Schlachthofs und von der Möglichkeit des Theaters. Gibt es Gesten, gibt es Texte, gibt es Sprachen, in denen das Messer und der Hammer auftauchen und beiseitegelegt werden?

Fragen dieses Typs können nicht beantwortet werden. Die Leistung besteht auch nicht bereits darin, sie zu stellen. Die Leistung besteht darin, ihnen einen Raum zu geben, in dem sie sich entfalten können. Es ist kein Zufall, daß die Prozeßkategorie, die Ende des 18. Jahrhunderts in der Chemie eingeführt wurde, um zu beschreiben, was man nicht verstand, nämlich den Übergang von einem Zustand zu einem anderen Zustand, am Ende des 20. Jahrhunderts in der Managementphilosophie wiederentdeckt wurde, um zu beschreiben, daß es mit dem Übergang von einem Zustand zu einem anderen nicht getan ist, wenn man nicht konditionieren kann, was sich in diesen Übergängen ereignet. Hatte man sich dereinst damit begnügt, daß Techniker ein Produkt und dessen Qualität definieren und Kunden, ohnehin mit nur geringer Auswahl konfrontiert, ihnen dann abnehmen, was sie geboten bekommen, so geht es jetzt darum, den Kunden, der längst die Wahl hat, in den zu diesem Zweck wiederentdeckten Prozeß der Produktdefinition und Produkterstellung hineinzunehmen, um mit um so größerer Verläßlichkeit abschätzen zu können, was er braucht, und ihn rechtzeitig, nämlich als Mitproduzenten, an seine eigene Nachfrage zu binden. Brisant ist dies, weil es nicht nur im Außenverhältnis zu den Kunden auf dem Markt, sondern auch im Innenverhältnis zu den Kunden der betrieblichen Teilleistungen gilt. Und brisant ist dies erst recht, weil dabei die technischen Festlegungen nicht mehr beibehalten werden können. Wenn die Verbindungen, denen ein Prozeß nachzugehen hat, vorgegeben werden, so formuliert die neueste Verwaltungswissenschaft, braucht der Prozeß nicht mehr stattzufinden.

Wenn der Raum eine Chance haben soll, im Umgang mit dem Raum überhaupt sichtbar zu werden, genügt nicht das Kalkül, sondern braucht man einen Prozeß. Anders wird während des Austausches der einen Wirklichkeit durch eine andere Wirklichkeit der Austausch selbst nicht sichtbar und findet somit auch die Wirklichkeit dieses Austausches keinen Ort. Der Prozeß definiert den Raum dreifach, als wirklicher Ausgangszustand, als möglicher Endzustand und als tatsächliche Zustandsoperation in diesem Raum. Der Prozeß, darin besteht die Pointe, enttrivialisiert diesen Vorgang jedoch, weil die tatsächliche Zustandsoperation andere Ausgangs- und Endzustände sichtbar macht als diejenigen, die man erwartet hat, als man an die Sache herangegangen war. Man stellt fest, daß die aktuelle Wirklichkeit des Raums sich gegen die anvisierten Möglichkeiten wehrt. Weder die Akustik noch die Optik noch das Imaginäre und Symbolische des Raumes spielen mit, von Wind und Wetter, Staub und Kälte zu schweigen. Und man stellt fest, daß die Gesten, die diesen Raum neu definieren sollen, von ihm in andere Gesten verwandelt werden, die nicht ihn definieren, sondern mit denen er die definiert, die sie ausüben. Der Raum spielt mit. Er spricht. Er singt. Er bewegt sich. Manchmal tanzt er sogar. Wer hat hier die Regie?

Die Theaterarbeit im Schlachthof zeigt, daß ein Raum über die Definition von Innenseite und Außenseite noch lange nicht erfaßt ist. Jeder Vorgang in diesem Raum, sei es der wirkliche des vergangenen Schlachthofs oder der mögliche des gegenwärtigen Theaters, hat seine eigene Innenseite und Außenseite. Er definiert eine Möglichkeit und läßt dadurch andere ungenutzt, die jedoch gleich anschließend, wenn auch vielleicht von anderen, gesehen und aufgegriffen werden können. Jeder Vorgang in diesem Raum konstituiert ein eigenes Gedächtnis, das sowohl zurückgreift als auch vorausgreift und das sowohl erinnert als auch vergißt. Jede Geste, jedes Wort besetzen einen Punkt in einem komplexen, vielfach gekrümmten Raum, dessen Nachbarschaftsverhältnisse immer überraschend bleiben, solange es gelingt, den Prozeß zu schließen, das heißt für alles andere offen zu halten.

Daß sich Aischylos und Brecht in diesem Raum behaupten, ist die geringste Überraschung. Sie sind selbst komplexe Punkte in einem gekrümmten Raum, auf kein Ziel und keine Linie zu verpflichten. Daß sich Schauspieler, daß sich eine Regie in diesem Raum behaupten, ist die eigentliche Überraschung. Sie müssen gesehen haben, wie er tanzt.

Also gehen wir wieder ins Theater. Es konzentriert sich, so scheint es, auf ein neues Problem. Es ist der konkreteste und greifbarste Zwilling und Widerpart der neuen künstlichen Intelligenzen, den wir gegenwärtig haben.


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