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der standard 4/2000, ronald pohl

    Der Standard
Samstag/Sonntag, 15/16.April 2000
Die Nackten und die Roten
Das "theatercombinat" zeigt Brecht: entblößt

Wien - Sein ehrgeizigstes Stückprojekt, mit dem sich Bertolt Brecht jahrzehntelang herumschlug, indem er den Text immer wieder aufs Neue hervorzog und ihm neue poetische Pfropfreiser aufsteckte, überstieg letztlich sogar seine Kräfte: Das Fragment vom Aufstieg und Scheitern des "Egoisten Fatzer" drohte ihn zu überwuchern. Irgendwann sperrte der Dichter das ganze chaotische Blätterkonvolut in den Giftschrank, nicht ohne vorher stolz anzumerken, er habe in dem Zettelwirrwarr dichtungsmäßig den ihm möglichen "technisch höchsten Standard" erreicht.

Die Gruppe theatercombinat schlägt sich nun in einer St. Marxer Tierschlachtungskathedrale, in einer kargen Landschaft mit Betonabflußbecken und Viehpflöcken, ihrerseits mit dem Fatzer herum. Fatzer, der Deserteur aus dem Ersten Weltkrieg, der mit seinen Kameraden eine anarchistische Zelle bildet, um an ihr und in ihr zugrunde zu gehen, ist nicht zu fassen, jedenfalls mit keinem geläufigen Theaterkunstmittel.

Claudia Bosse und Josef Szeiler haben einen wahnwitzigen Gruppenarbeitsprozess in Gang gesetzt, auf ungeheiztem Betonboden sich wälzend, die fröstelnden Leiber krümmend, die Fatzer-Verse im leeren Raum skandierend - Brechts fruchtbaren Gedanken aufnehmend, dass nur in einem Zukunftstheater von noch nicht gekanntem Ausmaßen sich die sozialen Fantasien am wirksamsten entfalte. Dem Wiener Kulturamt war dieses Anliegen im vergangenen Jahr gerade eine knappe Million Schilling wert.

Die Zeit bis zum großen Crash, wenn Brechts Fatzer mit Aischylos' Orestie im Oktober ganztägig funkenschlagend zusammenprallen soll, vertreibt sich der extremistische Verband mit "Zwischenveröffentlichungen". Mit seiner neuesten flieht das theatercombinat sogar das geschützte St. Marxer Areal.

Ein rund einstündiges, nacktes Probesitzen und Textaufsagen im öffentlichen Raum eines ehemaligen Schallplattengeschäfts in der opernseitigen Albertina-Passage wird von Claudia Bosse, Musterschülerin der Berliner Ernst-Busch-Schule, wie folgt angekündigt: "Wie kann man sich nichttagespolitisch auf die öffentliche Sphäre beziehen? Indem wir uns nackt darbieten und Brecht aus dem Agitationszusammenhang der 30er-Jahre herauslösen."

Den Wienern sind erhellende Einsichten durch die Glasfront des klub shabu zu wünschen (diesen Montag, 8 bis 9, 13 bis 14, 17 bis 18 Uhr). Eine Blicklustbarkeit oder: purer Materialismus.

Ronald Pohl


www.theatercombinat.com theatrale produktion und rezeption