massakermykene

text und spiel 07/2000, carena schlewitt

    Text und Spiel
massakermykene im Schlachthof St.Marx in Wien

von Carena Schlewitt

Erster Eintritt in das Schlacht-Areal

Zwei riesige Stiere aus hellem Sandstein krönen ein hohes Tor am Ende der Viehmarktgasse. Dieses Tor mit den Stieren scheint auf etwas Heiliges, eine Art Tempel zu verweisen ... Ich trete ein und suche die "Halle". Links und rechts säumen rote Backsteinbauten die Strassen innerhalb des Geländes. Ich versuche, mich an die Wegbeschreibung zu halten, um den richtigen Eingang zur Halle zu finden. Von weitem sehe ich eine Radfahrerin aus einer Ecke kommen. Ich lenke meine Schritte in diese Richtung und lese schliesslich, mit weisser Kreide dünn an eine Wand geschrieben, "Massakermykene".

Zunächst nehme ich nur die Halle in mich auf, die eigentlich aus mehreren Hallen besteht, wenn man die wenigen Wände, die es gibt, wahrnimmt, und wenn man sich die verschieden grossen Hallenrundbögen an dem einen Ende des Geländes ansieht. Der Vergleich zu einer riesigen Bahnhofshalle um die Jahrhundertwende des 19./20. Jahrhunderts steigt auf - etwa der Leipziger Kopfbahnhof ... Mobilität, Ankunft und - hier - industrielle Vernichtung, Abschlachten, Schlachten. Ich gehe durch die Halle mit ihren leeren Tierverschlägen aus Eisen, Bucht an Bucht, den kleinen Häuschen zum Wiegen der Tiere, den Futtertrögen, den gekachelten Schlachteecken. Eine eigentümliche Stille hat sich über die Planquadrate der Hallenoberfläche gelegt, kein auch nur imaginäres Schreien der Tiere ist mehr zu hören - aus, vorbei. Lediglich Hallengeräusche sind zu vernehmen, irgendein Klappern, Rauschen des Windes, gemischt mit den Tönen der nahegelegenen Autobahn.

Claudia Bosse und Josef Szeiler haben sich dieses Areal gesucht, nicht als milieu-zeichnenden Ort der vergangenen Jahrhundertwende, sondern als riesenhaftes, überdimensionales Zeichen von industrieller Massenverarbeitung, -vernichtung. Dieses riesenhafte Ganze soll nun mit zwei Stoffen der Theaterliteratur konfrontiert werden, die im Verhältnis gesehen, ebenso grosse Zeichenhaftigkeit und gleichzeitig für heutige Verhältnisse Unfassbarkeit zu besitzen scheinen - die "Orestie" und "Fatzer". Die Orestie als ein Gleichnis dessen, was heute schier unmöglich scheint: die Fassbarkeit einer ganzen Gesellschaftsentwicklung in der Zerstörung einer Familiengeschichte. Fatzer als Textkonvolut/-masse, das eben diese Fassbarkeit, diese einheitliche Form, die Gesellschaftsproblematik Anfang des Jahrhunderts nicht mehr in diese gegossene Gesamtform unterbringen konnte. Fatzer als Geschwür mit immer wieder neuen Auswüchsen und dem Gelingen, sich auf den "Herd" des Ausbruchs zu beziehen oder dem Misslingen, den "Herd" nicht mehr ausfindig zu machen.

So gesehen ist die "Orestie" die Schale, in der "Fatzer" aufgehoben, in die Fatzer immer wieder hineingeholt wird, die Form, von der Fatzer sich abstossen kann, aber auch wieder in ihr aufgehen kann.

Aussen um die Halle herumschlendernd, habe ich das Gefühl, die Lautstärke ist nun stark gedämpft und ich begreife hier draussen, dass da drinnen zunächst grosse räumliche und Text-Zeichen gegeneinander gesetzt werden. Dieser rein konzeptionelle Ansatz baut sich vor mir auf, ohne dass ich bisher etwas von einer theatralen Form, einer theatralen Auseinandersetzung wahrgenommen habe. Ich habe bisher lediglich den beruhigenden Eindruck gewonnen, um realistisches Ausschlachten dieses Areals, um Interpretation, um nostalgische Hallenromantik der 70er Jahre kann es hier nicht gehen. Die anderthalb Jahre bisheriger Arbeit lassen eines sofort spüren, dass hier die Umgebung angeeignet wurde - mit dem Material, dem Stoff.

Zweiter Eintritt

Ich nehme die Halle wahr, als ein Gebäude mit Hauptschneisen, Nebenwegen, Versteckecken, Kulen, Häuschen ...

Ich betrete eine dieser Hauptschneisen: hier und da sind am Rand Sofas oder Sessel aufgestellt, die in einem grellen Grün leuchten. So vereinzelt markieren sie eine andere als die Hallenrealität. Das grelle Grün verweist auf die Halle und bietet sich selbst an als Oase für den Zuschauer, als Ruhepunkt, nur zum Schauen, zum Lesen, zum Schlafen oder als kommunikativer Treff für Gespräche.

Oder diese grünen Punkte markieren einen Startpunkt für theatrale Aktionen. Die Spieler, gekleidet in rot, orange, gelb, sitzen auf den grünen Möbeln, ruhig, konzentriert. Gelassene Erwartung breitet sich aus, überträgt sich: calm down, runterkommen, Energie umleiten, Aktionismus in Konzentration verwandeln. Eine Stunde vergeht so - rasend schnell. "Zeus" - der erste Schrei ragt fast in das Gefühl des "ich bin doch noch nicht fertig". Abbruch, Beginn von etwas Neuem. "Zeus" - noch zwei, drei Rufe aus anderen Richtungen. Ich sitze auf einem grünen Sofa, mitten in einer langen Hauptschneise, eine Tangente, die die beiden Haupthallen miteinander verbindet. Von beiden Seiten bewegen sich die Spieler aufeinander zu, das Zeitmass der Ruhe in sich bergend, sehr langsam und konzentriert.

Die bewegliche Rüstung

Der Blickfang in dieser Bewegung: die Figuren in ihren Kostümen - zwischen verfremdeter Arbeitskleidung und Tempelkostüm, knallig bunt.

Die beiden Männer, zarte Burschen, gekleidet in rote oder gelbe wattiert gesteppte Jacken und rote Hosen. Ein weiterer Spieler, ein Komponist, der diese Arbeit begleitet, tritt teilweise nackt auf, teilweise trägt auch er eine grüne Jacke aus gleichem Material und Schnitt und einen wattiert gesteppten, braun-violetten Rock, am Rücken in der Taille verknotet wie ein Provisorium, eine Schürze.

Dieser grün-braune Spieler mit kräftiger Statur wirkt wie der Tempelwächter - er ist der Aussenseiter der Gruppe und doch scheint er gleichsam immer wieder in die Lücken zu springen und etwas Verbindendes, wenn auch Sprödes herzustellen - sein Schreiben an die Wand, sein Metronom, seine selbstverständliche und zugleich irritierende Nacktheit. Er wirkt wie ein Kommentar auf die schmalen Jünglinge und die Aufgaben, die sie zu bewältigen haben und wie ein Kommentar auf die Frauen, als starker Gegenpol zur femininen Seite.

Die Frauen tragen rote Hosen, orange fast steife Oberteile, blusenähnlich mit weiten Ärmeln. Und sie tragen auch diese wattiert gesteppten Röcke in grellen Farben, orange, gelb, rot, am Rücken verknotet.

Die Kostüme sind nicht einfach nur bunte Punkte in der grauen Halle, funktional warm im kalten Winter bei Minusgraden, wenn auch gespielt wurde. Sie liefern Bewegungsspielraum und gleichzeitig Halt für die Spieler. Sie stecken die Spieler in eine Form, abgehoben von der Hallenästhetik. Sie markieren die Möglichkeit, den Beginn grosser Theatervorgänge. Die grossartige Einfachheit und wiederum Zeichenhaftigkeit der Kostüme - auf der theatralen Spielebene - stellt das Bindeelement zwischen Raum und Text her. Besonders die Röcke erinnern an japanische Modemacher, aber auch entfernt an die Form von archaischen Stammeskostümen, verfremdet durch das Material. Die Spieler wirken so im Stillstand wie lebensgrosse Marionetten und in der Bewegung, und - im wahrsten Sinne des Wortes im "Ausschreiten" und körperlichen Agieren, einschliesslich des stimmlichen Agierens, wie Individuen, die in einen anderen "Seinszustand" übergetreten sind.

Die Kostüme als Verstärkung des eigenen Körpers empfinden - das Ausagieren der Sprache im Kostüm, das zum eigenen, fremden Körper geworden ist - eine zweite Haut, um sich und die Texte besser zu verstehen. Das Schreiten, Rennen, Sitzen, Stehen mit diesen Röcken ist ein anderes, das Vorbeugen im pludrigen Oberteil, das Ausstrecken der Arme - all dies geschieht wie in einer beweglichen Rüstung.

Text - Ansage - Spiel

Josef Szeiler und Claudia Bosse, die Spielmeisterin, haben sich mit dieser Gruppe in Quarantäne, in eine Auszeit zurückgezogen - zwischen Autobahn und Sackgasse. Um was zu tun ? Um ein Textkonvolut als Spielmaterial von für heutige Theaterverhältnisse unvorstellbarem Ausmass zu erkunden und zu beherrschen.

Der wichtigste Vorgang im Arbeitsprozess war die Aufbereitung/Aneignung des Textes, des Sprachmaterials als Spielmaterial. Die Aneignung der Inhalte, der Themen, der Figuren, der Sprache, des Sprachduktus musste in detailgenauer, minutiöser Arbeit vorangegangen sein, damit diese Texte immer wieder in neuen Variationen so durch die Körper hindurchgehen konnten - wie das Heben eines Armes als natürlich gilt und auf verschiedenste Weise erfolgen kann. Der Text musste Spielmasse werden - verfügbar, aber nicht fügig gemacht.

Claudia Bosse setzt mit ihren Ansagen, die den Spielverlauf unterbrechen, ihn in eine andere Richtung treiben, die Fatzer-Fragmente und die Orestie-Teile aneinander, gegeneinander. Sie will Text-Aussagen verhindern - against interpretation - die Beherrschung des Materials ermöglicht es, mit den Textbausteinen leicht zu "hantieren" und theatrale Vorgänge zu entwickeln. Für jede neue Szenenansage gibt es eine Grundkonstellation, eine figural-räumliche Ausgangssituation. Dann spüre ich über die sechseinhalb Stunden Fortgang des Geschehens, wie Szene um Szene von den Spielern mit oder gegen die Spielmeisterin Claudia Bosse gebaut werden - anhand eines anderen als des Sprachalphabetes. Erfunden werden Sprachfiguren im Raum, ein Körperalphabet. Um mit dem Text frei umgehen zu können, bedarf es einer adäquaten Fülle von Möglichkeiten, in andere Sprach- und Zeichensysteme von Körper und Raum zu wechseln. In den anderteinhalb Jahren bisheriger Arbeit hat die Gruppe um Josef Szeiler und Claudia Bosse soetwas wie einen Improvisationspoolgeschaffen, aus dem wieder und wieder bei jeder Probe, bei jeder Veröffentlichung neu geschöpft wird.

Theatrale Rauminstallation - räumliche Sprachskulptur

Die Symbiose von Spiel und Text bringt zumindest über weite Teile die Halle zum Schwingen und macht sie eher zum Gegenstand der Spieler als umgekehrt. Eine Spielerin begibt sich in eines der Häuschen, die mit Tierwaagen ausgestattet sind. Sie stellt sich auf die Waage, schlägt mit beiden Händen gegen ihren Rock (ein raschelndes und zugleich dumpfes Klopfen am eigenen Körper) und beginnt eine längere Textpassage, laut klagend, schreiend. Nach und nach übernehmen die anderen Spieler in den anderen Wiegestationen die Klage und führen sie fort. Chor, Klagerufe, Sing-Sang, Schrei, Rhythmus - eine theatrale Rauminstallation. Später sind die Spieler fast unbemerkt auf die Häuschen geklettert oder sie befinden sich an den Wänden, "klebend" auf halber Höhe, in der Halle verteilt. Ich nehme sie erst nach einer geraumen Zeit wahr, in der ich versuche, Geräusche, hohe kehlige Laute, Rufe in der Halle zu verorten. Fast ist es, als würde für einen Moment lang die Illusion genährt, man befände sich in der Natur, irgendwo in der Wildnis. Auch hier flackert kurz die Nähe zu dem auf, was als archaisch bezeichnet wird. Aber es handelt sich, wie schon bei den Kostümen oder bei den choreographischen Bewegungen im Raum eher um eine vage, vorsichtige Andeutung des Archaischen, keine Rückführung aller Elemente auf diesen Punkt hin. Die Zeichen sind da, aber nicht als Legitimation aller Versuche. Ein anderes Bild - Fatzertext: die Spieler liegen in den Fresströgen, lang ausgestreckt, kaum sichtbar und beginnen, den Text zu sprechen - eine räumliche Sprachskulptur. Die Sätze entschwinden und bleiben weiträumig hängen. Dann folgt das Sichaufrichten der Spieler - in weiträumiger Distanz zueinander und dennoch das Beziehungskreuz der Szene deutlich machend.

Die Beobachtung als permanenter Mitläufer

Die Versuchsanordnung auf der Seite der Spieler wird über Beobachtung gesteuert. Das Publikum kann den Spielverlauf von sich aus am besten bestimmen, indem es entweder mitläuft oder sich in eine Ecke zurückzieht, aus der das ganze nur als Hörspiel zu erleben wäre, oder die Halle verlässt und vielleicht wiederkommt oder sich mit einem anderen Zuschauer unterhält oder sich hinsetzt und liest oder mit einem Walkman das ganze als stummes Spiel mit fremder Begleitung ansieht. Für die Spielleiterin ist das Publikum eine Komponente der Beobachtung: was macht das Publikum, wie verhält es sich zum aktuellen Spielverlauf. Die andere Beobachtungsebene ist die der Spieler. Wie ist die "Tagesform", wo liegen Stärken, Schwächen der Spieler ? Wie ist es möglich, immer wiederkehrende Zentren des Spiels zu entwickeln, zu variieren ? Und schliesslich wirkt auf der dritten Ebene die "Selbstbeobachtung" als Spielpartner mit dem "stillen, dem ruhenden Material", dem Text, den die Spielmeisterin immer wieder anbietet, in die Runde wirft.

Die Spieler beobachten einander, die Spielleiterin und das Publikum. Das Publikum beobachtet die Spielleiterin, die Spieler und das Publikum. Das Mitmachen des Publikums läuft hier über komplexere Beobachtungstrukturen als dies im "normalen" Theater der Fall ist. In welche Richtung geht die Energie, wird ein Kreis geschlossen oder gerade etwas aufgebrochen, für wie lange - lohnt sich das jetzt noch für mich, gehe ich, bleibe ich - aber zurückgezogen etc. Abgesehen von der Anstrengung, Texte zu verfolgen, die mittlerweile fremder klingen als manche Fremdsprache, unterliegt der Zuschauer einem ständigen Entscheidungszwang und muss sich diesem auch noch in zum Teil grosser körperlicher Herausforderung stellen. Das Begleiten der Szenen erfordert auch vom Publikum ein enormes Laufpensum auf dem harten Hallenboden. In diesem Zusammenhang fallen die Mitspielszenen, die in zwei Momenten mit dm Publikum ausprobiert wurden, als ein in die Leere gehendes altes Modell von Mitmachtheater ab. Ab dem Punkt des aktiven Mitmachens wurde der Zuschauer in eine passive Zwangssituation gesteckt.

Viel spannender als das Durchbrechen des Beobachtungsstatus versus Spiel durch die sogenannte direkte Kommunikation mit dem Zuschauer wurde die zeitweilige Aufgabe der Selbstkontrolle im Spiel. Der Wechsel von Sprache, Text, gepaart mit Bewegung, Choreographie im Raum und Frequenzüberschreitungen im Sinne fast irrationaler Ausbrüche aus der Form macht auch den Ausnahmezustand dieser Arbeit deutlich, die Nicht-Linearität, das Durchschreiten eines unbekannten Terrains. Dieses "unbekannte Terrain", seine Grenzen werden immer wieder deutlich vorgeführt, sichtbar, spürbar.

Austritt aus dem Schlachthof-Areal

Theater als Medium und als Form

"Massakermykene" praktiziert das, was heute im Theater eher unüblich geworden ist. Es geht den Machern nicht um das Einverständnis mit ihrer individuellen Lebenswelt oder darum, diese verlängert auch als biographische Selbstdarstellung im Theater vorzuführen, oder um einen neuen Realismus im Theater, dessen politisches Manifest bereits die eigentliche Theaterarbeit vorwegnehmend verkleinert. Die beiden Texte, die grosse Umbruchsituationen ihrer jeweiligen Epoche verkörpern, werden vom theatercombinat zerlegt und immer wieder neu zusammengesetzt. Dieses Risiko, das die Spieler Abend für Abend eingehen, übernimmt auch der Zuschauer in einem offenen Prozess der Auseinandersetzung. Er bekommt an keinem Abend die endgültige Fassung, Inszenierung geboten: Aufführung ist gleich Probe und Probe ist gleich Aufführung. Die Konfrontation mit immer wieder neuen Szenen, neuem Sprach- und Improvisationsmaterial erfordert vom Zuschauer ein mindestens ebenso hohes Mass an Fähigkeit zur Verknüpfung der jeweiligen Fragmente der "Geschichte" wie dies von den Spielern als konstruktives Moment für theatrale Vorgänge gefordert ist. Die Auseinandersetzung mit einer Szene kann so nie wirklich zu Ende geführt werden, sie wird abgebrochen, taucht in der nächsten oder übernächsten Szene oder gar nicht wieder auf. Der Zuschauer begleitet die Arbeit physisch und intellektuell. Sobald er nicht mithält, ist er draussen. Er bekommt auch nicht zum Trost, wie im "richtigen Theater", ein Resultat mit nach Hause.

(Carena Schlewitt, Juli 2000)


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