SCHLAFgegen düsseldorf

    Platon, oder die Form der Stadt
Dirk Baecker

erscheint in: Polis - Zeitschrift für Architektur und Stadtentwicklung (2002)

Die Ordnung der Unterscheidung

Soziale Lagen werden robust und wandlungsfähig, wenn Kommunikation und Interaktion, die sie reproduzieren, zwischen zwei aufeinander bezogenen Werten oszillieren können. Eine Hierarchie wird dadurch zu einer verläßlichen sozialen Einrichtung, dass sich an ihr Handlungen und Sprachen orientieren, die die Wahl zwischen oben und unten haben und diese Wahl nicht zuletzt daran orientieren, dass man oben Motive für unten und unten Motive für oben mobilisieren muß. Die Wissenschaft kann nur dadurch sozial etabliert werden, dass sie neben ihrem Interesse an Wahrheit auch ein Interesse an Unwahrheit pflegt und den Wechsel zwischen den beiden Werten zu einer Sache der Entscheidung durch Theorien und Methoden macht. Wir sprechen von einer “Form”, wenn wir es in diesem Sinne mit einer Unterscheidung mit zwei Seiten zu tun haben, in der der Wechsel zwischen den beiden Seiten die Unterscheidung produziert und reproduziert.

Seit Platons Politeia kann man wissen, dass für die Stadt Ähnliches gilt. Im Unterschied zur Sippe oder zum Stamm ist die Stadt jener soziale Ort, an dem Unbekannte aufeinander treffen, Handel miteinander treiben und ihren Leidenschaften nachgehen, ohne sich um die Vorgaben einer traditionellen, durch Fürsten- oder Priestergewalt geregelten Ordnung zu kümmern und ohne deswegen außerhalb jeder sozialen Ordnung zu leben. Platons Text lebt von der Erfahrung der scheinbar ungesicherten, weil “selbstorganisierten” Ordnung,, die dieses Phänomen bei seinen Beobachtern auslöst. Seine Frage nach der Verfassung einer “gerechten” Stadt antwortet auf diese Erfahrung, indem sie die Idee der “Gerechtigkeit” (“dass jeder das Seinige tut”, Politeia 433b) zu einer normativen Idee entwickelt, die durch die Beobachtung der empirisch ganz andersartigen Verhältnisse nicht etwa widerlegt, sondern bestätigt wird. Das empirische Faktum der Stadt ist die “Ungerechtigkeit”, das heißt “Einmischerei und gegenseitiger Tausch” zwischen den Geschäften der sozialen Klassen (434b). Die Verfassung der Stadt muß die normative Idee der Gerechtigkeit angesichts der ihr widersprechenden Wirklichkeit stark machen und zum Bezugspunkt der Möglichkeit machen, diese Wirklichkeit zu akzeptieren. Seither ist jede Politik damit befaßt, die Verhältnisse sicherzustellen, die von der “Ungerechtigkeit” profitieren, und ihnen eine Idee der “Gerechtigkeit” entgegenzustellen, die es erlaubt, in die Verhältnisse einzugreifen, wenn sie den bereits etablierten sozialen Interessen zu sehr widersprechen. Die Gerechtigkeit ist der abstrakte, nie einzulösende Rahmen einer lebendigen, aber ungerechten Ordnung. Sie erlaubt es, sich auf der Ebene des Einspruchs gegen die Verhältnisse auf diese einzulassen.

So wegweisend dieser platonische Text für die Konstitution des Feldes des Politischen ist, so aufschlußreich ist er in seinem literarischen Verfahren. Dieses Verfahren unterläuft und bestätigt das Interesse an einer normativen Grundlegung der Ordnung der polis durch den empirischen Aufweis und Nachweis der dieser normativen Grundlegung widersprechenden Wirklichkeit. Wenn es Sokrates schließlich gelingt, seine Vorstellung von Gerechtigkeit zu definieren, sind alle Alternativen bereits genannt und somit bekannt, von des Kaufmanns Kephalos‘ Idee einer wirtschaftlichen Gerechtigkeit, die darin besteht, niemandem etwas schuldig zu bleiben (331b), über die Faktizität der Leidenschaft, des Erwerbstriebs und der Streitsucht bis hin zur Beobachtung der “Vieltuerei” (434c), die die normative Ordnung immer wieder durchkreuzen. Der Text schließt empirisch ein, was die Idee der Verfassung, die er formuliert, normativ ausschließt. In dieser Form entfaltet der Text seine Wirksamkeit und in dieser Form ist er ein Exempel jener “philosophy of organism”, die Platon in seinem Werk entwirft und zu der sich die philosophische Tradition Europas nach dem Wort von Alfred North Whitehead wie eine Serie von Fußnoten verhält. Diese “philosophy of organism”, zu der Whitehead eine bis heute nicht zureichend gewürdigte Begrifflichkeit entworfen hat, beschäftigt sich mit der Möglichkeit von Prozessen, in denen das Aktuelle als potentiell einschließt, was es aktuell ausschließt. Vor allem steht in Frage, wie das Ausgeschlossene wiedereingeschlossen werden kann, ohne damit die Unterscheidung, auf der der Ausschluß beruht, in Frage zu stellen. Oder noch einmal anders: Wie muß eine Unterscheidung gebaut sein, damit sie aufeinander bezieht, was sie voneinander trennt?

Platon führt das Problem bereits durch die Anlage seines Textes vor Augen. Der Text ist der Bericht eines an einem unbestimmten Ort stattfindenden Gespräches, in dem Sokrates von einem am Vortage stattgefundenen Gespräch berichtet, das er mit Glaukon und vielen anderen vor den Toren der Stadt, nämlich im Hafen Piräus, über die Stadt geführt hat – als würde man nur außerhalb der Stadt jenen Überblick über die Stadt als Lebensform und jenes Zutrauen zur Benennung ihrer Probleme gewinnen, die sich in der Stadt, überwältigt von der Gleichzeitigkeit des Verschiedenen, nicht mehr gewinnen lassen.

Warum die Wächter philosophisch sein müssen

Die Frage nach der Ordnung der Unterscheidung berührt den Kern dessen, was als soziale Ordnung seit der Stadt und mit der Stadt auf dem Spiel steht. Platon führt sie jedoch noch einen Schritt weiter, indem er nicht nur danach fragt, wie der Philosoph und Politiker auf die neue soziale Lage reagieren, sondern auch danach, wie dies jedem einzelnen Bürger gelingt. Dies, wenn man so will, ist die “soziologische” Frage der Politeia. Die Bürger, das ist bekannt, differenzieren sich in Bürger und Sklaven; das ist schon einmal sehr hilfreich, denn dann kann man die Ordnung, worin auch immer sie besteht, daran erproben und daraus stärken, dass man sie gegenüber denen durchsetzt, die ihr unterworfen sind. Darüber hinaus treiben die Bürger Handel, beschäftigen sich mit der Politik und kümmern sich um ihre häuslichen und familiären Angelegenheiten. Es kommt zu so etwas wie einer mehr oder minder einleuchtenden Arbeitsteilung und durchaus nicht unwidersprochenen Vorstellungen darüber, welcher untergeordnete Platz Frauen und Kindern in dieser Ordnung zuzuweisen ist.

All das löst jedoch nicht das Problem, wie jene Interaktion und Kommunikation mit Unbekannten, mit “Fremden”, zu bewerkstelligen ist, mit denen die Stadt im Unterschied zur Sippe und zum Stamm tagtäglich konfrontiert. Platons Lösung dieses Problems besteht darin, dass er die sozialen Fähigkeiten des Hundes und die sozialen Aufgaben der Wächter, Hüter und Krieger in ein Bild zusammenzieht (376). Ein Hund, so stellt Sokrates dem Glaukon vor Augen, verhält sich ohne Zögern gegenüber Unbekannten böse, selbst wenn diese ihm nie etwas zuleide getan haben, und gegenüber Bekannten freundlich, selbst wenn er von diesen noch nie etwas Gutes erfahren hat. Das ist das Optimum einer sozialen Einstellung, die frei ist von utilitaristischen Erwägungen und damit frei von jener opportunistischen Orientierung an Gelegenheiten, die schon immer die einmal gefundene Ordnung auf harte Belastungsproben stellte. Und diese Einstellung sei, so fährt Sokrates fort, die wahrhaft philosophische Einstellung, weil sie am eigenen Verstehen das Bekannte und am Nichtverstehen das Fremde erkenne. Nichts anderes sei von den Wächtern der Stadt zu verlangen, die in der Lage sein müßten, wie die Hunde zu erkennen, wer in der Stadt bekannt und wer in ihr fremd sei und dementsprechend die einen freundlich und sanft und die anderen unfreundlich und stark zu behandeln. Nur jene Wächter könnten ihre Aufgabe erfüllen, die diese Unterscheidung ohne zu zögern treffen. Und philosophisch sei dies, weil nicht das Gegenüber auf seine Absichten befragt wird, sondern das eigene Verstehen oder Nichtverstehen.

Allerdings beläßt der platonische Text es auch hier nicht bei einer allzu statuarischen Festsetzung, sondern schmuggelt eine weitere Bestimmung der Eigenschaften der Wächter ein, die schließlich jene Spur begründet, in der sich die soziale Ordnung der Stadt verankern kann. Denn vom Wächter ein philosophisches Naturell zu fordern, heiße zugleich, von ihm zu fordern, lernbegierig zu sein. Dies sei dasselbe, bestätigt Sokrates, obwohl er die Forderung der Lernfähigkeit der Forderung nach dem Philosophischen gleichsam hinterherschickt, ohne ihr eine ähnlich klare Bestimmung wie die der Unterscheidung des Verstehens und des Nichtverstehens mit auf den Weg zu geben. Was also ist unter dieser Lernfähigkeit zu verstehen? Nichts anderes, so ist zu vermuten, als die Fähigkeit, mit der Unterscheidung zwischen dem Verstehen und dem Nichtverstehen flexibel umzugehen, das heißt die Option zu eröffnen, dass man das Nichtverstandene doch versteht und das gerade noch Verstandene nicht mehr versteht; oder anders: dass aus Fremden Bekannte und aus Bekannten Fremde werden können. Freilich steht dies nicht im Text, und mit gutem Grunde nicht, denn damit würde die Ordnung des Normativen auf die Ordnung des Empirischen bezogen, ohne dass entweder empirische oder normative Kriterien angegeben werden könnten, was es letztlich heißt, zu verstehen oder nicht zu verstehen, und wann jemand im Zweifelsfall als fremd oder bekannt gelten kann und muß.

Das ist die brisanteste Stelle des platonischen Textes, die durch die vielen Manöver des Sokrates danach zwar in Vergessenheit geraten, aber nicht geklärt werden kann. Die Unterscheidungen zwischen Verstehen und Nichtverstehen sowie zwischen fremd und bekannt und die von ihnen supplementär abhängige, wiewohl scheinbar vorgängige Unterscheidung zwischen Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit (“gerecht ist, was seinen ihm bestimmten, also bekannten, also verständlichen Platz einnimmt und sich nicht in die Belange anderer ebenfalls bekannten Plätze einmischt”) können ausschließlich in sich selbst, in ihrer eigenen Operativität, verankert werden und haben somit keinerlei externen, weder kosmischen noch ideellen Halt. In dieser Zuspitzung der Stadt auf das Problem ihrer Bewachung (inklusive: ihrer Befähigung zu kriegerischen Erwerbszügen) gipfelt die soziologische Bestimmung der Stadt als polis.

Das Problem der Bewachung ist jedoch gleichzeitig das Problem des kognitiven, emotiven und ästhetischen Wiedererkennens der Stadt. Denn bewachen kann ich nur, wenn ich weiß, wie ich das zu Bewachende von dem Angreifenden unterscheiden kann. Deswegen ist die Stadt auf uns kaum noch nachvollziehbare Weise tief in unserem Gemütshaushalt verankert. Und deswegen stellen wir immer wieder neu die Fragen nach dem, was uns durch Erkenntnis zugänglich, durch Emotionen vertraut und als ästhetisch stimmig erscheint. Da die empirische Ordnung die normative unterläuft, haben wir keinerlei Grund, die Dinge und ihre Ordnung irgendwann für gesichert zu halten, aber allen Grund, uns wachsam zu verhalten, selbst wenn und gerade weil wir häufig nicht wissen, welche Dinge, Gesten, Geräusche und Anblicke uns warum in den Alarmzustand versetzen. Die Stadt ist nicht nur der ein für alle Mal der gefährlichen Wildnis abgerungen und durch Mauern gegen sie geschützte Ort. Sondern sie ist eine neue Wildnis, die aus der Stadt selbst ihre Motive gewinnt und gegen die die Stadt sich nur durch interne und haarscharfe Differenzierung schützen kann. Jeder von uns ist nicht nur kontemplativer Betrachter dessen, was wir eine Stadt nennen, sondern auch ein ganz und gar unwillkürlicher Agent dieser Differenzierungen und dies auch und gerade dann, wenn diese Differenzierungen auf die Probe gestellt werden.

Die Erfindung des Bürgers

Die Stadt ist der soziale Ort, an dem die Unterscheidung zwischen vertraut und unvertraut, die für alle “Lebenswelt” elementar ist, in den Raum, der mithilfe dieser Unterscheidung sortiert wird, wiedereingeführt wird. Das heißt, die Stadt ist der Ort, an dem Übergänge zwischen den Zuständen des Vertrautseins und des Unvertrautseins entwickelt und erprobt werden. Die Stadt ist der Ort, an dem man sich nicht kennt und dennoch Interaktion und Kommunikation miteinander aufnehmen kann. Schon deswegen, so Max Weber, mußte der Bürger als Einzelner, als “Person”, aufgefaßt und entwickelt werden, weil man nur so eine Chance hatte, ihn kennenzulernen, obwohl man nichts über Herkunft und Hintergrund wußte. Die Ideen der “Person”, “Persönlichkeit” und “Biographie” schaffen Anhaltspunkte der Adressierung von Interaktion und Kommunikation, wo man es bislang, das heißt außerhalb der Stadt, niemals riskiert hätte, sich auf einen unbekannten Anderen einzulassen, ohne vorher zu prüfen, welchem Stamm, welchem Clan oder welcher Sippe er oder sie angehört.

Das ist eine der Voraussetzungen für das, was man die Emanzipation des Individuums nennt, von dem jetzt jedoch auch ganz neuartige Fähigkeiten erwartet werden. Man wird nicht mehr als Mitglied einer Sippe angesprochen, man kann jedoch auch nicht mehr als Mitglied einer Sippe reagieren, so sehr die verschiedensten kulturellen Milieus hierfür eine allerdings nicht mehr strikt an die Herkunft gebundene Entlastung bieten. Was zuvor die Sippe leistete, müssen nun Verstand und Vernunft übernehmen, auf die die Bürger stolz zu werden beginnen, ohne zu wissen, welchen sozialen Vorlagen und Ansprüchen sie diese Errungenschaften verdanken. Niemand hat dies genauer beschrieben als Georg Simmel, der der Stadt die Entstehung jenes menschlichen Intellekts zuschreibt, der es lernt, sowohl mit Wahrnehmungsreizen als auch mit sozialen Gelegenheiten selektiv, das heißt ablehnend, also, in den Worten Simmels, “blasiert” und “reserviert” umzugehen und der sich nur so Techniken aneignen kann, sich mit dem Unvertrauten vertraut zu machen (ohne sich ihm gleich auszuliefern) und das Vertraute als unvertraut zu behandeln (um so neue, bislang noch nicht für möglich gehaltene, gleichwohl jedoch städtisch erforderliche Verhaltensmöglichkeiten zu erwerben).

Oszillation im Raum

Platons Text verankert diese Wiedereinführung der Unterscheidung von vertraut und unvertraut in den durch die Unterscheidung erschlossenen Raum, indem er zwei Geschichten erzählt, die weder das Unvertraute noch das Vertraute auf sich beruhen lassen. Diese Geschichten haben mit der Stadt scheinbar nichts, aber mit dem Leben in der Stadt alles zu tun. Die erste Geschichte erzählt von Leontios, dem Sohn des Aglaion, der außerhalb der Mauern der Stadt spazierengeht und dabei Leichen entdeckt, die der Scharfrichter noch nicht begraben hat (Politeia, 439e-440a). Zwischen Lust und Abscheu schwankend, gibt er der Begierde seiner Augen schließlich nach und gönnt ihnen den Anblick. Auf diese Art und Weise wird er mit dem Unvertrauten vertraut, stellt jedoch der Vertrautheit des Anblicks für seine Augen die Unvertrautheit seines Gemüts mit demselben Anblick zur Seite, ja bringt vielleicht sogar durch dieses Spiel zwischen Lust und Abscheu letztere gegen erstere allererst in Form. Hier hebt jene Ausdifferenzierung des Intellekts gegenüber der Wahrnehmung an, von der Simmel spricht und die die Kognitionsforschung heute wieder brennend interessieren müßte.

Die zweite Geschichte ist das Höhlengleichnis (514-517), mit dessen Hilfe die Philosophie festhält, welch Mißtrauen sowohl gegenüber den Wahrnehmungen als auch gegenüber den Schlußfolgerungen des Intellekts angebracht ist, das jedoch erst dann seine Pointe erhält, wenn nicht unterschlagen wird, dass die Philosophen, die das “Licht”, also “nichts”, gesehen haben, genötigt werden, “zum Regieren” wieder in die Höhle hinabzusteigen und sich dort an den Interpretationen der anderen, wiewohl nicht ohne Erinnerung an das Geschaute, zu beteiligen (520c). Seither muß jedes Vertraute als unvertraut, jede Realität als Imagination, jede Wirklichkeit als Maschinerie gelten, ohne dass daraus die Schlußfolgerung abgeleitet werden kann, es gäbe eine erkennbare wirkliche Wirklichkeit – denn wenn man sich dieser nähert, sieht man nichts.

Diese beiden Geschichten begründen das kognitive und emotive Mißtrauen, auf dessen Grund das Vertraute und das Unvertraute zum Oszillieren gebracht werden können. Insofern sie (und andere Geschichten) erzählt und wieder erzählt werden, begründen sie zugleich jedoch auch das kognitive und emotionale Vertrauen, dass diese selbsttragende Konstruktion, auf die sich die Interaktion und Kommunikation der Menschen angewiesen sieht, tatsächlich trägt, mit welchen Verwerfungen, Irrtümern, Katastrophen und Beruhigungen auch immer. So gewinnt die Stadt, nie ganz vertraut und nie ganz unvertraut, jene “unheimliche Vertrautheit”, von der Michel de Certeau spricht und die er durch sein “Gehen in der Stadt” zur Erfahrung bringen will.

In dieser Form der Wiedereinführung der Unterscheidung zwischen vertraut und unvertraut in den Raum des Sozialen und der damit verbundenen “Emanzipation” (Max Weber) aus den traditionalen Formen der Gesellschaft wird die Stadt zu einem elementaren “symbiotischen Mechanismus” (Niklas Luhmann) der Gesellschaft. Denn die Stadt verknüpft die Möglichkeit der Oszillation zwischen den beiden Werten des Verstehens und Nichtverstehens, des Vertrautseins und Unvertrautseins mit einer ebenso sichtbaren wie beweglichen Situierung dieser Oszillation im Raum. Denn der Raum erlaubt es, Dinge und Körper abhängig von ihrer jeweiligen Markierung als vertraut oder unvertraut so zu plazieren, dass das interaktive und kommunikative Verhältnis zu ihnen sowohl unterstrichen und festgehalten als auch erkundet und variiert werden kann.

Räumlichkeit kann hier mit Martin Heidegger, der überraschend nah an der Netzwerkterminologie formuliert, als ein Medium begriffen werden, das in dem Moment sowohl vorausgesetzt als auch konstituiert wird, in dem Dinge ent-fernt, also in die Nähe (einer Aufmerksamkeit) gerückt werden und sie eine Ausrichtung auf eine Gegend hin erfahren, aus der sie und in der sie Sinn machen.

Warum wir auf die Stadt nicht verzichten können

Vor diesem Hintergrund fällt es nicht mehr schwer, sich ein Forschungsprogramm vorzustellen, das für alle Belange soziologischen Interesses die Stadt historisch, regional und kulturell daraufhin untersucht, welche räumlichen Lösungen für das Bekanntwerden mit dem Unbekannten (und Wiederunbekanntwerden mit dem Bekannten) sowie das Vertrautwerden mit dem Unvertrauten (und wieder Unvertrautwerden mit dem Vertrauten) gefunden werden. Die mit dem Begriff des symbiotischen Mechanismus verbundene, hinter einem solchen Forschungsprogramm stehende Hypothese lautet, dass weder die Aufnahme wirtschaftlichen Handels und Geldgebrauchs gegenüber Unbekannten noch die Bereitschaft zur politischen Unterwerfung unter Unbekannte noch das Einreichen einer gerichtlichen Klage bei Unbekannten noch die Erwartung, von unbekannten Lehrern etwas lernen zu können, noch die Fähigkeit, auf Heiratsmärkten Unbekannte zuzulassen, ohne eine alle diese Formen von Interaktion und Kommunikation begleitende räumliche Struktur entwickelt und abgesichert werden können, in denen zwar nicht die Unbekannten als Bekannte, aber immerhin die Formen der Interaktion und Kommunikation mit ihnen als vertraut behandelt werden können. Dazu dienen Marktplätze, Festungen, Gerichtsgebäude, Schulen und Universitäten sowie Feste und Promenaden.

Es mag sein, dass die Fähigkeit zum switch zwischen “privatem” und “öffentlichem” Verhalten sowie die Einübung von öffentlichkeitserprobten Codes der Höflichkeit und des Taktes für die Sozialisation in den Umgang mit Unbekannten am wichtigsten sind, wie es Hans Paul Bahrdt vermutet. Dies mag schon deswegen gelten, weil die jeweiligen Öffentlichkeiten die Übergänge zu spezifischen sozialen Netzwerken unspezifischer zu halten erlauben als es die Übergänge zwischen den einzelnen Netzwerken sein könnten. Immerhin bedeutet “Öffentlichkeit” (Erving Goffman), dass mindestens die Unterscheidung in eine performance-Rolle und eine audience-Rolle der jeweiligen Situation auch dann Halt gibt, wenn die Rollen gewechselt werden können, und dass somit immer mindestens eine Rolle gegeben ist, die still hält, sich auf das Beobachten konzentriert und taktvoll die Fehler der Akteure übersieht.

Es mag auch sein, dass es für die räumliche Organisation der Stadt bestimmte Schwellenwerte zum Beispiel im Verhältnis von bebautem zu unbebautem Land gibt, die nicht unter- oder überschritten werden können, ohne dass die Stadt ihre kognitive, emotive und ästhetische Evidenz, das heißt den Sinn für die Wahrscheinlichkeit des Gelingens einer unwahrscheinlichen Ordnung, verliert – ganz zu schweigen von den rein funktionalen Erfordernissen von Dichte, Licht und Luft, die für uns mit einer Stadt verbunden sind.

Solche und andere Verankerungen sowie Grenzwerte wären im einzelnen zu erforschen. Sie ändern jedoch nichts daran, dass die Stadt nicht in ihrer institutionellen, funktionalen und räumlichen Organisation, sondern als Referenzpunkt einer selbsttragenden sozialen Konstruktion gesellschaftlich funktionieren und überzeugen muß.

Deswegen wäre daran festzuhalten, dass wir auch angesichts einer zunehmend “eigenschaftslosen Stadt” (Rem Koolhaas) und ihrer Auflösung in die Isotopien, Heterotopien und Utopien einer verstädterten Gesellschaft (Henri Lefèbvre) vor allem untersuchen sollten, wie die Stadt von welchen sozialen Netzwerken und von welchen sozialen Systemen als Referenzpunkt des Umgangs mit Unbekannten wie schon zu Platons Zeiten in Anspruch genommen wird. Die Stadt hat dort keinen Raum, wo wir es nur mit Bekannten zu tun haben. Sie fängt jedoch dort bereits an, wo wir diese als unvertraut behandeln dürfen, sei es auf Dinnerparties, auf denen Karriereoptionen gehandelt werden, oder in Schlafzimmern, die unter dem Eindruck von Diskursangeboten der Psychoanalyse oder des New Age stehen. Die Stadt hat auch dort keinen Raum, wo wir es nur mit Unvertrautem zu tun haben, fängt jedoch dort bereits an, wo wir in vertrautem Rahmen auf dieses Unvertraute stoßen, in den Kinos, die uns Filme über die Tiefsee zeigen, in den Theatern, die uns in die Abgründe der Seele schauen lassen, in den Bordellen, die uns mit exotischen Sexualpraktiken bekannt machen, oder auf der Straße, wo uns auch die ausgefallenen Kleidungsweisen nicht überraschen, solange sie genauso getragen werden wie die gängigen.

Hinfällig wäre die Stadt als soziologischer Untersuchungsgegenstand erst dann, wenn sich zeigen ließe, dass sie für die Sozialisation des menschlichen Intellekts (inklusive seiner Wahrnehmungsfähigkeiten) und für die Operationen der Funktionssysteme der Gesellschaft keine wesentliche Rolle mehr spielt. Solange dies jedoch nicht der Fall ist, bleibt die Hypothese aktuell, dass die Stadt vor allem dann, wenn sich in Wirtschaft, Politik, Erziehung, Religion, Wissenschaft und Recht ein bedeutender, also prekärer Strukturwandel vollzieht, als Ort der Oszillation zwischen dem Vertrauten und dem Unvertrauten angespielt wird. Der Wechsel von der Agrar- zur Industriegesellschaft vollzog sich, bevor das Gewerbe ausgelagert wurde, ebenso in der Stadt und vor den Augen nicht zuletzt neu gewonnener Stadtbürger, wie der Wechsel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft. Vielleicht hat sich in der Politik seit dem Wandel von der feudalen zur demokratischen Politik nicht mehr sehr viel ereignet, aber dass dieser ohne seine Inszenierung in Cafés, Salons, Parlamenten, Barrikadenkämpfen und Proklamationen möglich gewesen wäre, darf ebenso bezweifelt werden wie die Möglichkeit eines Putsches ohne die sichtbare und hörbare Besetzung von Medienanstalten, Regierungsgebäuden und öffentlichen Plätzen. Wer will ausschließen, dass die seit Jahrzehnten akute Krise der schulischen und universitären Erziehung auch damit etwas zu tun hat, dass diese im öffentlichen Raum kaum noch einen Ort hat (und im privaten vom Fernsehen verdrängt wurde)? Und wer will umgekehrt ausschließen, dass die immer wieder überraschenden Erfolge einer vielfach totgesagten Religion auch damit zusammenhängen, dass ihre Kirchen im Stadtbild unübersehbar sind und bereits bei den kleinsten Irritationen der Kirchenraum zumindest für Momente Entlastung bietet?

Die Stadt bleibt wie zu Platons Zeiten der Ort des Wiedereinschlusses des Ausgeschlossenen und dies nicht als Ort der Versöhnung des Gegensätzlichen, sondern als Ort der Zivilisierung der Gegensätze, die vorkommen sollen, ohne sich absolut setzen zu dürfen. Wenn dies jedoch so ist, öffnet sich nicht nur für die soziologische Forschung, sondern auch für die Stadtplanung und Stadtentwicklung ein kaum noch überschaubares Forschungs- und Betätigungsfeld. Denn im städtischen Raum findet die Gesellschaft nicht nur ihren Niederschlag, hier entscheidet sich auch, welche Reproduktionslogiken sich durchsetzen können und welche nicht. Irgendwann werden sich auch die neuen Unbekannten, die Klone und Roboter, auf den Straßen zeigen müssen. Und erst dann werden wir wissen, ob wir ihnen einen Ort geben können und wollen oder nicht. Zumal dies dann, ebenso wie bei allen Unbekannten zuvor, nicht von ihnen abhängt, sondern von ihrer Fähigkeit zu städtischem Verhalten. Wenn sie erst einmal genauso wie wir vor einer Kinokasse Schlange stehen oder in einer Straßenbahn einer Dame den Platz anbieten, wird die Stadt wieder ganz unabhängig von ontologischen Kategorisierungen der in ihr vorkommenden Dinge und Personen ihre gesellschaftliche Funktion unter Beweis gestellt haben.

Literatur:

Hans Paul Bahrdt, Die moderne Großstadt: Soziologische Überlegungen zum Städtebau. Neuaufl., Opladen: Leske + Budrich, 1998

Michel de Certeau, Kunst des Handelns. Aus dem Französischen von Robert Voullié, Berlin: Merve, 1988

Hartmut Häußermann (Hrsg.), Großstadt: Soziologische Stichworte. 2. Aufl., Opladen: Leske + Budrich, 2000

Martin Heidegger, Sein und Zeit. Tübingen: Niemeyer, 1972

Henri Lefèbvre, Die Revolution der Städte. Aus dem Französischen von Ulrike Roeckl. Reprint, Frankfurt am Main: Syndikat, 1976

Georg Simmel, Die Großstädte und das Geistesleben. In: ders., Das Individuum und die Freiheit: Essais. Berlin: Wagenbach, 1984, S. 192-204

Max Weber, Die Stadt. Tübingen: Mohr, 2000

Autor:

Dirk Baecker lehrt Soziologie an der Universität Witten/Herdecke. Jüngere Veröffentlichungen: Wozu Kultur? (2000), Wozu Systeme? (2002).


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