zurück zur projektseite von BONES and STONES

– reflexion | freda fiala
– unverklungen | fanti baum

 

zur performance in wien (23. februar 2023 in der halle G, tanzquartier wien)

BONES and STONES
ein Performatives Habitat des Post-Anthropozän
ein Erfahrungsprotokoll


von Freda Fiala

wir steigen in die halle G hinunter. der raum liegt unter der erde, und heute brodelt es in ihm. rauch steigt auf, die luft ist dunstig und warm. in der landschaft stehen schlote, aus ziegelstein geschichtet. sie sind gefäße, sie sind tempel, sie sind vulkane. es strömt aus ihnen. sie bewahren geheimnisse, die sie im ganzen raum verteilen. ich erinnere eine nachricht, die claudia bosse mir von ihrem aufenthalt in indonesien geschickt hat. das foto eines aktiven vulkans, dessen inneres durch einen höhlenartigen krater nebulös in den himmel stieg. ein javanischer gigant, dessen sprache an diesem tag hellgrau und nebelfein war, dessen bild mich ohne weitere worte erreichte.

man möchte so lange in den abgrund blicken, wie der rauch es erlaubt: vulkane sind bekannt als wohnsitze der götter, als eingänge in die unterwelt; sie sind wächter von gemeinschaften, die zur gänze mit den kräften der vulkane leben und sterben. im moment des ausbruchs wird die präsenz des vulkanischen für die menschen sichtbar, der vulkan artikuliert sich in einer darunter arbeitenden tektonischen bewegung jedoch permanent.

wir sind inmitten von wesen, die die halle mit klackernden geräuschen einnehmen. die sechs performerinnnen [anna biczók, myrthe bokelmann, anita kaya, carla rihl, marcela san pedro, christa zuna-kratky] sind abkömmlinge des vulkans. von ihnen wachsen tierknochen in den raum, ragen aus einer zeit die den hier versammelten nicht zu gehören scheint. sie sind auf einmal da, wie frisch aus der biosphäre gegraben, jener schicht welche die erde von allen anderen planeten unterscheidet. mir ihren vibrierenden körpern geben sie uns den raum, schütteln sich durch seine abstände, entlang ihrer inneren zeit-säulen. die abstände signalisieren das zusammen-kommen, sie gestalten das mit-der-welt sein als resonanzraum, erfüllt von lavuriösem brodeln, metamorpher tonalität. sie tragen die ziegelkränze in schichten ab, verteilen sie um uns, zwischen uns. die steine ziehen durch den raum wie nomaden, sie errichten orte zum verweilen und zuhören, an denen die geschichte anders erzählt wird. jeder stein, mit dem wir so in berührung kommen, war einmal flüssig.

BONES and STONES, claudia bosse, tanzquartier wien, 2023, foto: markus gradwohl

es gäbe zahlreiche möglichkeiten, eine geschichte von BONES and STONES über den begriff der techné, aus der sicht des durch sie tätig werdenden menschen zu erzählen. unter den manuellen vorgängen, die sich steinen und knochen aufgrund ihrer härte bedienten, können das knochenschnitzen, wobei mit steinen dekorative stücke aus knochen geschnitzt werden; oder das steinpolieren gezählt werden, wobei knochen als werkzeug und schleifmaterial zum einsatz kommen. in der performance begegnet uns jedoch eine ganz anders dimensionierte weise des verstehens, die den menschlichen zugriff auf die dinge als einen vorgang von kürzester dauer verdeutlicht. eine aus der perspektive des post-anthropozän verfasste entstehungsgeschichte von materie und leben versammelt hier 300 millionen jahre erdgeschichte, von der nur ein bruchteil menschliches leben kennt. ihre BONES and STONES teilen nicht zuerst agens, sondern substanz. sie sind durch elemente verbunden, die über jahrmillionen gleichsam in ihnen abgelagert wurden.

was, wenn die geschichte aus der sicht der steine erzählt wird, die ganze erdgeschichte über den wechsel der elemente abgewickelt wird, und oxidation jener vorgang ist, der die größten umbrüche bestimmt. eine von moos, nicht von moses bestimmte geschichtsschreibung, die 400 milliarden jahre oder sogar noch mehr umfasst.

die erdkruste ist immer in bewegung, landschaft verändert sich beständig. realität, so wird es später eine stimme aus dem off sagen, formt sich fortwährend im prozess, der kein feststehendes, materielles objekt ergibt. prozesse des realität-werdens definierten sich wiederum durch die relationen, in welchen sie zu anderen, weiteren prozessen stehen. wodurch entwickeln wir also überhaupt ein gefühl dafür, wie unser platz in diesem universum dimensioniert ist? wie entwickeln wir ein bewusstsein für materie, das deren manifestation in jeder:m einzelnen von uns wiedergibt, abseits des technischen, und unserer darin erlernten ausdrucksfähigkeiten?

es ist ein vorgang, in dem sich die sprache gänzlich zurückhält. sie wird, im versuch fortwährend etwas zu repräsentieren, zuzuordnen und rhetorisch zu bestimmen, von einem weit größeren wissen in die grenzen gewiesen. der handlungsspielraum des materials ist ungleich größer, beweglicher. wir werden zeugen eines kosmos, der sich selbst lernt, einer entwicklung die qua ihres statthabens kennen gelernt werden kann, ohne sich dazu in worten äußern zu müssen. die körper finden, stattdessen, tektonisch zusammen – sie werden zum ort des bebens, geraten in einen zustand, wo alles immer wieder ineinander driftet, um zu zerfallen und im prozess eine andere, ein anderer, ein anderes zu werden.

eine erfahrung ist ein vulkanischer vorgang. sie bricht über uns herein, über alle, die durch die sinne mit der welt interagieren. die erfahrung kommt als eine äußere, eine veräußerte, ausgebrochene, die sich erst im nachhinein zu einer erzählung zurechtfindet. an ihr ist stets ein veränderndes moment, sie hinterlässt eine spur, fossilisiert einen moment gravierender veränderung.

umgeben von bewegungen die aus der tiefe des körpers, aus dem körperzentrum kommen. von unten nach oben steigen, um den raum anders auszurichten, ein mit-ein-ander für das es forschende, affektive wissen einzurichten. eine verbundenheit, ohne in berührung zu treten. durch unseren körper nehmen wir an den prozessen teil, die ihn ganzheitlich prägen und formen. somatische praktiken öffnen uns für ein wieder-lernen. prozesse, die ökologisches wissen und bewusstsein unterstützen, werden körperlich aktiviert. so begegnen wir steinen, mineralien und knochen – sie sind museale objekte, leihgaben aus dem naturhistorischen museum. ihre gegenwart schärft die aufmerksamkeit und schenkt achtsamkeit – denn wir sind in dieser landschaft die nachgeborenen, und es ist unsere aufgabe, das uns umgebende mit verantwortung und respekt zu behandeln. in diesem habitat des post-anthropozän existieren menschliches und nicht-menschliches, in schmerz und schutz, zusammen.

alles durchdringend gleist das licht [von paul grilj] von der anderen seite der terra, bricht zwischen den körpern, wird spektralfarben. der sound [von günther auer] erzeugt eine ähnliche ganzheit. ein knistern, brodeln, gelegentliche erosionen und explosionen sind zu hören, akustische signale die von von sehr weit weg das hier und jetzt erreichen. sie verbinden die parallelen plateaus des aktuellen und virtuellen. das kontinuum der zeit erscheint ihnen als unendlicher prozess des werdens, in dem auch die zukunft bereits da ist, und folgerichtig gilt, keine zeit mehr zu verlieren.

es folgt eine periode der stille. christa zuna-kratky, sie ist die älteste der frauen des vulkans, durchquert mit zwei einkaufstüten aus weißem plastik den raum. schließlich schüttet sie den inhalt aus, eine unzahl blank polierte schweineknochen rauscht zu boden. es ist ein seltsam teilnahmsloser moment, der erneut die frage stellt, was wir mit einer zeit anfangen sollen, die so viel älter ist als wir selbst. die gruppe der frauen wird noch in der frage tätig, indem sie sich der möglichkeit der neuanordnung der knochen annehmen. sie regenerieren das verstehen in archäologischer sorgfalt, legen die teile neu aus, lassen sie in formationen zusammenwachsen. entlang der risslinien der vulkanischen ziegel verbinden nun auch die knochen die bruchlinien der raumerfahrung.

vulkanismus ist ein bekanntes motiv der science-fiction, wo dessen kräfte dystopische zukünfte formen. die dramaturgische komposition von BONES and STONES ergibt sich indes in eine feier, die die urkräfte der gaia zelebriert. sie tanzt durch den raum, entreißt sich ihrer kleider und stürmt bald, achsial taumelnd davon. ein baldachin wird über einem der größten steine aufgespannt, als ob es seine gedanken zu erhalten gilt. weiter draußen, von der stiege her, strahlt das licht noch immer und begleitet eine prozession der performerinnen, die nach oben steigen, um moosig leuchtende urlandschaften zu uns in die halle zu bringen. sie platzieren diese biosphären, die in zylindrischen glasgefäßen kultiviert wurden zwischen uns, wie antike säulen. ihre kulturen sind erinnerungen an die entstehung des lebens und die verschiedenen erzählungen, die wir uns davon machen.

es ist ein steinerner garten geworden, in dem das zusammengerechnete gewicht der nicht-menschlichen bestimmt höher ist als das gewicht der menschlichen wesen. wessen vorstellungen sind für das zusammen-leben in diesem garten relevant, und wessen wissen wiegt schwerer? zu zweit hieven sie dann einen 20.000 jahre alten oberschenkelknochen eines mammuts in einen gurt und lassen ihn in den himmel des theaters schweben. ich sitze auf einem ziegel, der vorher noch bühne war, auf einer bühne, die vorher vulkan war. myrthe bokelmann, die jüngste der performerinnen erklimmt ein seil, um sich auf eine schwebende bahre zu legen. sie erscheint als die wächterin einer zeit, die alle unsere körper wach und umfasst hält. so endet der abend, nur der mammutknochen träumt ungestört, noch immer.

Freda Fiala works across the contexts of performance art, digital and new media dramaturgies and interculturalism, through researching, writing, dramaturgy and curation.



– erfahrungsprotokoll | freda fiala
– unverklungen | fanti baum
 

Fanti Baum über BONES and STONES von Claudia Bosse

Unverklungen

Stein:
altindisch styâyate, „gerinnt, wird hart“
griechisch stía, „Kiesel“; stéar, „Talg“
lateinisch stîria, „gefrorener Tropfen“

altindisch amaráh, „steinig“
altindisch ásmâ-, „Stein, Fels, Himmel“
awestisch (altiranisch) asman-, „Stein, Himmel“[1]

BONES and STONES, claudia bosse, tanzquartier wien, 2023, foto: markus gradwohl

Gaia ringt mit dem sie Umgebenden
Am Ende tritt Marcela San Pedro aus dem Hintergrund auf die Bühne, den nackten Körper in floral bedruckte Decken gehüllt. Fast scheint es so, als wäre sie selbst Natur, Mutter Erde, Gaia, die von der Hinterbühne in unser Bewusstsein tritt und mit ihr all die drängenden Fragen nach einem ökologischen Zusammenleben. Eigentlich war der Blick gerade den fünf anderen großartigen Frauen gefolgt, die nach zweieinhalb Stunden das erste Mal die Bühnenfläche nach oben, zum imaginären Himmel der Halle G, öffneten. In einer Art Prozession schreiten sie nun die Treppe hinunter, jede eine Biosphäre im Arm, um der Landschaft neues Leben zu übergeben.
Marcela San Pedro wirft ihre Umhänge kopfüber nach vorn, ringt mit den Stoffen und Gurten, kämpft mit dem sie Umgebenden. Ein eindrückliches Bild, eine kosmische Bewegung gar, die Chaos erzeugt und Gaia von dem befreit, was ihr die Menschen aufgetragen, eingeschrieben haben. Eine Bewegung, die uns der Instabilität der Erde aussetzt, ein großes Durcheinander herstellt. Indes ist sie umgeben von Jahrmillionen alten Steinen, die da sind und erst mal: nichts tun. Doch gerade hier, in ihnen, liegt die Energie des ganzen Abends begründet: In die Steine eingeschrieben ist Bewegung – als geologischer Prozess, wie in unsere Sprache. Geologische Kräfte haben in Form von Wärme, Bewegung, Gravitation, Druck und Zeit zu Härte und Dichte der Steine geführt, genauso lässt sich etymologisch das Wirken von Kräften nachvollziehen: als gefrorener Tropfen oder als etwas, das gerinnt, hart wird. Bewegung und Energie, die unserem Erleben von Zeit unzugänglich bleiben, informieren die Körper der Performerinnen. Auch uns Zuschauenden ist dieser Perspektivwechsel aufgetragen: Wie verändert die Zeit der Steine unser Empfinden von Gegenwart? Nichts, was sich ohne Weiteres beantworten ließe, noch komplizierter, die Konsequenzen für das eigene Schreiben auszuloten: Wie lässt sich bei diesem exzeptionell tollen Ensemble aus sechs Frauen unterschiedlichen Alters (24 bis 78 Jahre) aus der Perspektive der Steine denken, schreiben? Anders gewendet: Wie lässt sich Landschaft relational denken?

mise en perspective – in Perspektive rücken
Niemand bewegt auf einer Fläche nichts. Vielleicht trägt dieser denkbare Nullpunkt ein anderes Verhältnis zwischen Mensch und Stein in sich und öffnet das Theater für einen anderen Blick auf die eigenen Grundsätze. Auf einer beinah leeren Fläche tief unter der Erdoberfläche, quasi zwischen den Gesteinsschichten des Wiener Untergrunds, versammelt sich das Publikum zur Uraufführung von BONES and STONES, findet sich wieder inmitten nicht zu durchblickenden Nebels. Und erst einmal geschieht: nichts. – Nichts; – außer dass man einer radikalen Undurchsichtigkeit ausgesetzt ist. Eine Undurchsichtigkeit, die den ganzen Abend nicht weichen wird – als Notwendigkeit zur Desorientierung. Weiße Nebelschwaden entsetzen gewohnte Blickregime. Einzig die Materialität der Steine, der Körper und Knochen, die wuchtige Tiefe oder die hohen Spitzen des Sounds, das uns umfassende Gelb und später die Kälte des Lichts vermögen die Undurchsichtigkeit vereinzelt zu durchbrechen, zu durchschneiden, als wären sie selbst Probebohrungen in die Sedimentschichten. Eine beinah leere Fläche im tiefen Untergrund des Theaters, um uns unseren Ort im Kosmos wieder neu vorstellen zu können. Und im Steinbruch die Unterseite des Meeres zu erblicken.

se rassemble – wie sich all das versammelt
Landschaft oder Steinbruch. Nach und nach geben sich zwei kegelförmige Haufen aus Ziegelsteinen zu erkennen, aus denen es herausnebelt. Trotz der vermeintlichen vulkanischen Klarheit wird das Prinzip des mehrfachen Umstülpens unserer Wahrnehmung oder mehr noch unserer Beziehung zur Welt in der choreografischen Erzählung zentral bleiben. Schicht um Schicht wird im Verlauf des Abends in die Fläche eingezogen, in die Leere eingetragen, – aber zugleich immer auch abgetragen, zurückgenommen, uns entzogen werden. So ist diese Erzählung alles andere als chronologisch, immer wieder scheint ein Zustand in den anderen zu kippen, die Sequenzen, Ebenen, Logiken, Schichten sich zu überlagern: mythische Konstellationen, wissenschaftliche Erdgeschichte, mineralische Wolken, umgeben von verletzbaren Körpern, denen der Grund entzogen ist und die doch der Schwerkraft trotzen. Das für den Menschen schwer Vorstellbare wandert als Stimme durch den Raum und öffnet den Horizont der Choreografie: Nimmt man ein Molekül zu verschiedenen Zeiten der Erdgeschichte in den Blick, dann werden Leben und Nicht-Leben, organisches und anorganisches Material austauschbar, einmal ist es Bestandteil eines Steins, ein anderes Mal eines Käfers, einer Qualle, eines Baums und schließlich eines fossilen Brennstoffs wie Öl. Vulkane sind in diesem Transformationsprozess entscheidende Akteure, der Mensch lediglich in seiner mineralischen Verwandtschaft zwischen Steinen und Knochen auszumachen. „Realität“, wird viel später Carla Rihl in den Raum sprechen, „besteht aus Prozessen und nicht aus materiellen Objekten.“ Aber wie lässt sich von dem erzählen, das sich in die Steine und die Knochen eingelagert, eingeschrieben hat – von den Abdrücken der Körper im Sedimentgestein und von den Abdrücken der Steine auf unseren Körpern? –, in diesen verrückten zeitlichen Dimensionen, die uns von den Steinen trennen?

se renverser – Prozesse des Umstülpens
Während sich all das inmitten des Nebels zu denken gibt, ist das Publikum längst nicht mehr allein im Raum, selbst porös wie dieses Gestein, ist es durchdrungen von den Körpern der sechs Performerinnen – Anna Biczók, Myrthe Bokelmann, Anita Kaya, Carla Rihl, Marcela San Pedro, Christa Zuna-Kratky –, die nach und nach die Fläche betreten haben, als nackte Gestalten, Geschöpfe die Landschaft besiedeln, relationale Gefüge halten, das gegenseitige Involviert-Sein austarieren. Gerade als sich ein Gleichgewicht der Kräfte herzustellen scheint, verändern sich Raum und Körperlichkeit radikal: für die Dekonstruktion des aus Stein Gebauten. Ziegel um Ziegel tragen die sechs Frauen das kegelförmige Bauwerk ab, als hantierten sie mit Bausteinen des Kosmos. Zugleich verweist die Schwerkraft der Steine auf die Kraft der Körper, ihre Arbeitskraft, genauso wie auf unsere Ausbeutungsverfahren gegenüber der Natur. Das Vulkangestein bildet die Bühnen-Landschaft: Versatzstücke zum Sitzen. Indes ist dies ein wundervoll poetischer Moment: das Klackern der Ziegelsteine ist für lange Zeit das Einzige, was man hören wird im leuchtenden Gelb der Gasentladungslampen, wie Klänge eines Rituals. Ein Tun, das in beeindruckender Einfachheit den ganzen Raum seiner Theaterhaftigkeit enthebt – umwendet für sein Anderes. Einzig unterbrochen von ersten dunklen Tönen der Subwoofer. Überhaupt ist das Live-Environment von Günther Auer kongenial: Immer wieder öffnet es den Raum, erzeugt Durchlässigkeiten, ruft Unsichtbares auf, entwirft eine Um-Welt, die über die eigenen Imaginationsräume hinausreicht. Unbemerkt haben sich die Körper dem Vorgang entzogen, sich stattdessen versammelt als versetzt zueinander liegende Landschaft am hinteren Bühnenrand. Alleingelassen im Raum, müssen die Zuschauenden mit Stille, Nicht-Geschehen und dem Entzug der Körper zurande kommen, – bis sich die Landschaft als sich bewegende Skulptur und Organismus zeigt und irgendwann durch den Raum zu manövrieren beginnt. Doch auch dieser Moment wird kippen. Das Material zeigt die Veränderung an: Aus dem Haufen heraus greifen sich die Frauen grau quietschende Plastikumhänge, schnüren sie je anders um die nackten Körper, wappnen sich gegen Zugriffe und formen zugleich Bilder, die Szenen der Gewaltgeschichte aufrufen. Körper als bloßes Material, hin und her geschliffen, aufgetürmt, ihrer Menschlichkeit beraubt – im grellen, kalten Gegenlicht. Doch gewissermaßen lässt sich im Nebel so Folgendes erkennen: Körper, Material, Sound und Licht überlagern sich wie Gesteinsschichten und verschieben sich als fortwährender Prozess gegeneinander: – als Übereinandergestapeltes differenter Zeiten.

sich verlandschaften – Chor der Steine
Ein Stein kommt durch den Nebel gerollt, ein anderer wird mit Umsicht getragen, immer mehr treten auf, werden gehalten, gehoben, gestemmt, umfasst, gezeigt, geteilt –. Sie werden gerollert, geschoben, gezogen, bugsiert, sie sind spitz, kantig, klobig, ragen auf oder sind da wie ein Klotz: 20 bis 245 Millionen Jahre alt. Sie tragen Namen wie Basaltbombe, Granatglimmerschiefer, Riffkalk, Pegmatit, Tuff, Granit, Marmor, Serpentinit, Rotkalk. Es sind große, schwere Geschöpfe, wuchtige Klumpen, bröcklige Haufen. Sie sind sandfarben, grau, rot, mit Muscheln besetzt, geheimnisvoll glänzend, gesprenkelt, von Schneckenabdrücken durchzogen oder einfach nur in ihrem Stein-Sein: fahlgrau. Sie sind sackschwer, kaum zu halten, nur mit Kraft zu tragen, – und so nackt wie die Körper, die sie bewegen. Der Auftritt der Steine lässt die Körper hinter sie zurücktreten, die Steine lösen das Zittern der Muskeln aus, die Körper scheinen es auf sie zurückzuwerfen. Der Raum klingt, als würde dieses Zittern, Grollen nicht mehr vom Himmel weichen. Steine: an Rücken angeschmiegt, als Gewichte auf den Körpern, als Gegenspieler zum Gleichgewicht, als Ruhepole, Gefährten, Brocken, Schwergewichte –. Mit der Gebrochenheit der Steine zeigen auch die Körper ihre Verletzungen, die Struktur der Knochen, die Oberfläche der Haut. Inmitten des Raumes hält Christa Zuna-Kratky einen 20.000 Jahre alten Mammutknochen im Arm, dreht sich langsam und zeigt an, dass hier Zeit anders funktioniert. Der Knochen wiederum blickt die Umherstehenden von seinen Bruchstellen her an, als offenbarte er seine Wunden. Mindestens zwei Prozesse überlagern sich in dieser Landschaft, prallen in einer Art Eruption aufeinander: Das Stein-Werden aller Wesen und die Arbeit am Stein. Im Zusammenstoß aller Kräfte zeigt sich deren Gewaltpotenzial: Extraktion, kollabierende Sterne, Steine, Lichtexplosionen, Kräche, ein Rausch der Materie, Sprache, ein Beben der Darstellung, das die Form in Unruhe versetzt, – bis Stille eintritt und Dunkelheit. In dieser Stille ist das Fallenlassen zweier mit Knochenresten gefüllter Plastiktüten markerschütternd. Im fahlen Schein der Stirnlampen machen sich sechs Archäologinnen vorsichtig ans Werk, die Knochen und Steine zu lesen, die Bruchkanten zu ertasten und sie auf eigenwillige Art anzuordnen, sich mit ihren Körpern ihnen verwandt zu machen. So entsteht ein sonderbares Gebilde, ein Gefüge, das sich zu nichts mehr fügt, – aber umso mehr die Bewegung der sechs Frauen informiert. Eine Choreografie – als Zeichnung im Raum –, die vom Wissen transkorporaler Anordnungen kündet.

zurückgeworfen – das (Nicht-)Abzuschüttelnde
So wie die sechs Performerinnen im Nebelbeginn die knöchernen Extensionen ihrer Körper abzuschütteln suchen, konfrontiert uns das letzte Bild der Choreografie mit dem, was uns Zuschauenden zu tun bleibt: die europäische Sicht auf die Welt und die Körper abzuschütteln. Zwei Dinge hängen am Ende über den Köpfen der Zuschauenden im Schnürboden, sind gewissermaßen jede*r auf ihre*seine Weise dort festgezurrt, ihren Zusammenhängen enthoben: Ein 20.000 Jahre alter Mammutknochen und der Körper einer Frau. Eindrucksvoll erklimmt Myrthe Bokelmann an einem Seil eine Plattform in luftiger Höhe, setzt sich selbst in die Szene eines liegenden weiblichen Akts, während der Oberschenkelknochen an Strippen in den Bühnenhimmel gezogen wird. Zum letzten Mal überlagern sich die Blickachsen: denn so wie der Frauenkörper war die Landschaft einmal ein Bild, für den distanzierten Betrachter zurechtgerückt; – verfügbar gemacht für kapitalistische und patriarchale Zugriffe. Klar sieht das hinreißend aus, atemberaubend schön; trotzdem bleibt nichts als diese Vor-stellung von Welt abzuschütteln. Der Abend lange noch: unverklungen.

Fanti Baum ist Performancekünstlerin und Theoretikerin. Sie war Stipendiatin der Akademie Schloss Solitude, Artist in Residence beim Forschungskolleg „Imaginarien der Kraft“ und erhielt 2020 den Künstler*innenpreis der Stadt Dortmund. 2018 und 2020 war sie zusammen mit Olivia Ebert künstlerische Leiterin des „Favoriten Festivals“. Sie lehrt Performance in Theorie und Praxis an unterschiedlichen Kunsthochschulen und Universitäten. Im April 2023 erscheint beim Alexander Verlag Berlin Kein Theater. Alles möglich. – ein Buch von und über Claudia Bosse, das Baum zusammen mit Kathrin Tiedemann herausgegeben hat.

[1] Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der Deutschen Sprache, 25. Aufl., Berlin 2012. Weitere Kursivierungen verweisen auf Sedimentablagerungen aus Texten von Heiner Müller, Walter Benjamin, Werner Hamacher, Martin Heidegger – und auf das Programmheft zu BONES and STONES.

 




www.theaterc ombinat.com theatrale produktion und rezeption