theatercombinat | oktober - dezember 2015 urban laboratory IDEAL PARADISE - eine performative praxis im urbanen raum

sprache: deutsch


andreas messinger
renate kreil
simon nagy
elfirede haider

 

ZUSCHAUER_INNEN-BERICHTE AUS DER HAUPTBÜCHEREI


von Andreas Messinger
nach dem Besuch in der Hauptbücherei am 26.11.2015

Vor mir das ausladende Gebäude der Hauptbücherei Wien am Urban Loritz Platz das einem großen Frachtschiff voll Bücher gleicht. Es befindet sich zwischen den Hauptverkehrssträngen der Stadt die eine soziale Schneise zwischen den inneren und äußeren Bezirken zieht welche treffend als Gürtel bezeichnet wird. Der Bücherei gegenüber ragt eine Mall empor, Schmelztiegel der Kulturen, des Konsums und schlechten Geschmacks. Um den Aufstieg in die zweite Etage (der Haupteingang der Bücherei) zu meistern habe ich drei Möglichkeiten zur Auswahl die monumental anmutende Treppe an der Außenseite der Front, den Lift oder die Rolltreppe. Angemerkt sei dass sich unter der Bücherei eine U-bahn Station befindet welche erheblich zu dem geschäftigen Treiben auf dem Vorplatz beiträgt. Da es eine kalte Nacht ist, die Uhrzeit beträgt 19:30?, und ich vor keinem Lift warten will nehme ich die Rolltreppe. Im Inneren ist es ruhiger, die Bücherei hat offiziell vor einer Stunde geschlossen. Ich gleite langsam mit der Rolltreppe hinauf, an der Wand entlang formt sich aus großen Lettern die Frage was verbindet? Seicht grüble ich während der kurzen Fahrt über die Frage nach. Ich trete ein, es ist leer und still, zwei Damen warten lächelnd am Empfang, davor, nicht dahinter, daher nehme ich an dass sie keine Mitarbeiterinnen des regulären Betriebes sind. Sie erklären mir dass wir insgesamt drei Teilnehmer sind die separat ihren Weg durch die Bücherei finden müssen. Klingt schon mal sehr abenteuerlich. Ich bekomme einen Plan in die Hand gedrückt der mir den Weg zu meinem Ziel in der Bücherei weißen soll, eine gerade Linie, ich denke das schaffe ich. Es wird angemerkt dass man unter keinen Umständen vom Weg abweichen soll, wahrscheinlich wollen sie verhindern dass man verloren geht oder sich die Wege der Teilnehmer kreuzen und man mit smalltalk beginnt. Langsam stoßen auch die anderen beiden Teilnehmer dazu, zwei Frauen mittleren Alters. Die eine macht einen ganz aufgeschlossenen Eindruck, der Anderen merke ich etwas nervöse Zurückhaltung an. Scheinbar eine Schwester im Geiste, schon am Weg her hat sich in mir das mulmige Gefühl der Ungewissheit ausgebreitet. Ich glaube die größte Angst des Besuchers ist Teil der Performance zu werden, was natürlich Unsinn ist, denn selbst als passiver Zuschauer bin ich aktiver Teil vom Ganzen. Dennoch, die Angst vor zu viel Nähe und Interaktion hat schon manchen Besucher zwei Schritte zurück machen lassen, in ein sicheres Eck oder hinter einen anderen Teilnehmer. Nun, alles was ich über die Performance heute weiß ist, dass sie eins zu eins stattfinden wird. Das nimmt mir schon mal die Möglichkeit mich hinter anderen zu verstecken, andererseits steht auch niemand vor mir und sieht zu, außer der Künstler. Zurück zum Geschehen, viel Zeit um die anderen Teilnehmer kennenzulernen bleibt nicht, wir geben unsere Jacken ab und werden zu einer kleinen Tür begleitet. Im regulären Betrieb gibt es diese Türe nicht, Vorraum und Hauptraum gehen nahtlos ineinander über. Heute wirkt es als wäre ein riesiges metallenes Fallbein ins Schafott gefallen, welches die Bücher von der Öffentlichkeit abschirmt. Es erinnert mich ein wenig an Jurassic Park, das mulmige Gefühl wird stärker. Man teilt uns mit das wir zeitversetzt in Abstand von fünf Minuten eingeschleust werden. Auf meinem Plan steht die Nummer drei, ich bin der Letzte. Endlich bin ich an der Reihe, ich trete ein, Stille und Bücher sind die beiden Haupteindrücke. Tagsüber herrscht hier eine andere Stille, eine aufgezwungene, heute ist sie wirklich und an mich adressiert. Auch die Bücher sind nicht mehr Gebrauchsgegenstände, es macht den Eindruck als wären sie die Hausherren und ich bin der Gast, oder ein Eindringling. Automatisch passe ich meine Bewegungen der Umgebung an, ich werde vorsichtiger, mit vorgespielter Lässigkeit. Es besteht ja die Möglichkeit dass man beobachtet wird. Ich bahne mir meinen Weg langsam vorwärts, achte auf mögliche Zeichen oder Botschaften. Mein Blick streift aufgeschlagene Bücher die auf Podesten den Gang zwischen den Regalen säumen. Eine Werbung für Erotikartikel die zwischen den Seiten hervorblitzt prägt sich mit seiner vermeintliche Heimlichkeit besonders ein. Plötzlich nehme ich Geräusche war, mein Blick wandert zu einem Regal auf der rechten Seite des Raums, ich sehe eine Frau die scheinbar bis zur Hälfte in einem Regal steckt. Es macht den Eindruck als würde sie versuchen sich in einen viel zu engen Tunnel zu zwängen. Der Anblick hat etwas unwillkürlich komisches. Scheinbar hat ein Teilnehmer noch nicht seine Destination erreicht, meine ist es nicht. Ich schleiche mich unauffällig vorbei um keine Aufmerksamkeit zu erregen und den Ablauf durcheinander zu bringen. Zum Glück schluckt der Teppichboden jedes Geräusch meiner Schritte. Ich erreiche meinen Zielpunkt, eine Frau erwartet mich lächelnd, sie teilt mir mit dass sie heute mein Agent sein wird. Gut, also sind wir ein Team oder so. Ich frage was der Plan ist, Stille. Ok, nicht reden nur schauen. Man hat ein wenig das Gefühl einem willkürlich gelenkten Blickregime ausgeliefert zu sein. Sie fängt an laut die Themenbereiche aufzuzählen die uns umgeben und dirigiert dabei meinen Blick mit ihrem Arm. Gut denke ich, jetzt weiß ich schon mal grob um was es in den abertausenden Seiten rundherum geht. Es zwängt sich mir unwillkürlich die Frage auf ob es wohl auch Bücher gibt die sich nicht kategorisieren lassen. Mit einer Armbewegung werde ich dazu aufgefordert meine Blick auf einen leeren Stuhl zu richten. Sie beschreibt einen imaginären Besucher, er sitzt, blickt etwas nervös um sich und fühlt sich beobachtet. Es öffnet sich mir die imaginäre Umgebung dieses Besuchers, er selbst bleibt für mich jedoch nur eine verschwommene Vorstellung. Wahrscheinlich liegt es daran dass ich mir besser Eindrücke der Umgebung einpräge als einzelne Menschen. Es kommt jedoch sofort Mitgefühl für den Beschriebenen auf. Auch wenn mich das leichte stocken meiner Sprecherin wieder in das hier und jetzt holt bleibt der Eindruck einer parallelen Welt. Es werden noch weitere Besucher beschrieben. Wir treten gemeinsam um eine Ecke, ich halte Sicherheitsabstand. Sie fängt an die Titel der Buchrücken laut vorzulesen, dabei beginnt sie sich in immer ekstatischer werdenden Bewegungen zwischen Bücherregalen zu gebärden. Ein Lautsprecher schaltet sich dazu und bildet mit ihr einen Chor aus Buchtiteln die zu einer klangvollen Masse werden welche sich auf meine Wahrnehmung legt. Mein Kopf dröhnt, es fühlt sich beinahe so an als würde ich ausgelöst durch diese heftigen Bewegungen und den überlagerten Tonspuren das Gleichgewicht verlieren. Doch nach und nach kommt alles zu Ruhe, ich fange mich wieder. Die mittlerweile vertraute Stille ist wieder da, nur durchbrochen von den heftigen Atemstößen der Künstlerin. Sie beginnt, mit unterdrückter Atemlosigkeit einen weiteren Besucher zu beschreiben. Wir bewegen uns langsam an die vorderste Front des letzte Bücherregals . Es folgt ein weiterer Schwall aus Buchtiteln, mir fängt wieder an der Kopf zu dröhnen. Erst als die Künstlerin unabsichtlich den Verlag namens Knoblauch statt dem eigentlich religiösen Titel laut vorliest kann ich mich wieder erden. Langsam kommen auch diese Titelverse zum Ende, geschafft. Sie bittet mich wortlos in einem bequemen Sessel Platz zu nehmen, wir sitzen beide mit dem Blick aus der Glasfront die das hintere Ende der Bücherei bildet. Stille, jetzt kommt mir wieder der Gedanke dass wir auf einem Schiff sind, es könnte auch ein Raumschiff sein und ich blicke vom Deck in die Weite. Es ist Nacht, nicht sehr dunkel, erhellt von den unzähligen Lichtern der Autos die auf den beiden Straßen vor uns scheinbar im Kreis fahren. Die Stille ist jetzt nicht mehr unangenehm, sie ladet mich eher dazu ein meine Sinne neu zu orientieren, was ich auch nötig habe. Die Künstlerin wendet sich zu mir und bedankt sich, das Codewort, ich bedanke mich ebenfalls und verlasse langsam den Raum. Nachdem ich die kleine Türe in dem Metallmassiv wieder durchschritten habe fühle ich Erleichterung aber auch Freude über die intensive Erfahrung der letzten fünfzehn Minuten. Im Vorraum treffe ich auf die anderen Teilnehmer. Wir tauschen kurz unsere Erfahrungen und Gefühle aus, doch schnell verlieren sich unsere Wege wieder in der Dunkelheit der Nacht.


andreas messinger
renate kreil
simon nagy
elfirede haider

 

von Renate Kreil
nach dem Besuch in der Hauptbücherei am 26.11.2015

Gerade aus und dann rechts!   Es gibt solche und solche Publikumsindividuen. Diese, die einen guten Orientierungssinn besitzen und andere, denen man am besten ein GPS am Eingang implantiert - egal wohin sie müssen. Wieder andere lieben interaktives Theater - oder das Gegenteil - fühlen sich in Zuschauerräumen wohl, die sich klar von der Bühne distanzieren. Durch unüberwindbare Orchestergräben z.b. und die sich schon vor Vorstellungsbeginn darauf freuen in der dunklen anonymen Masse Publikum untertauchen zu dürfen. Sonst hätte man ja selber SchauspielerIn werden können, oder?  

An der Abendkasse:"Ich heiße Renate Kreil und eine Karte sollte für mich reserviert sein."  

"Herzlich Willkommen. Es wird bald beginnen. Hier haben Sie noch den Plan zur Orientierung. Es ist ganz einfach. Gerade aus, Sie sehen es an dieser Markierung, easy. Und dann rechts. Und alles weitere wird sich finden, Sie treffen dann ohnehin Ihren Agenten."  

"Das wird sicher kein Problem, ich gehe einfach den anderen nach."    

"Nein, bei dieser Produktion ist das anders, das Publikum betritt den Saal der Bücherei einzeln. Aber wie gesagt, das ist wirklich ganz einfach."  

"Oh, na gut, dann setze ich mich mal hin."  

Ich setze mich hin und fixiere die Eingangstür, die ich bald einzeln durchqueren muss. Ich starre auf den Wegweiser in meiner Hand und präge ihn mir ein. Gerade aus und dann rechts. Alles weitere wird sich finden. Gerade aus und dann rechts. Ehrlich, das kann ja nicht so schwer sein. Und dann treffe ich ja ohnehin meinen Agenten. Wie bitte? Wen treffe ich? Meinen Agenten? Was meinen die denn damit? Ich möchte sofort nach Hause, nein noch besser, in eine Bar.    

Aber da geht es schon los. Wie befohlen betrete ich den großen Raum der Hauptbücherei. Es ist 19:30 und nur ich bin da. Absolute Stille. Ich höre mich selber denken -   zu viele Regale, Bücher, Tische und Sitzgelegenheiten sind plötzlich um mich herum - mir wird schwummrig. Gerade aus und rechts - gerade aus, und dann rechts. Schon jetzt habe ich das Gefühl, dass die Bücher plötzlich Augen haben, die mich mitleidig verfolgen. Hätten sie einen Kopf, sie würden ihn schütteln - und sie wünschten sich, dass ihnen Arme wachsen um mir zu deuten.
Sie wussten etwas, was ich noch nicht wusste. Hätten Sie Stimmen würden sie sich jetzt gegenseitig zurufen. "Nein, nicht hier stehen bleiben, nein nicht vor der Abteilung Deutsche Sprache. Gerade aus und rechts! Steht doch auf den Zettel! Kann die nicht richtig Deutsch, oder was? Was macht die dann überhaupt in einer Bibliothek? Kein Ahnung, aber unter uns gesagt, sie wäre ja auch nicht die Erste. Ja, genau. Früher war ja alles besser….

Ich weiß noch nicht, dass ich falsch stehe. Die Zeit vergeht. Ich vergesse sie sogar. Ich beschäftige mich still, bewundere was es alles über die Deutsche Sprache zu schreiben gab. Ich bin zufrieden und habe sogar meine Angst vor meinem Agenten vergessen. Aber plötzlich taucht ein lebendes Wesen in den Gängen auf, welches mir bedeutet, dass ich weitergehen muss. Flüsternd, aber eindringlich. Eine neue Angst schwappt über mich herein, die auch sofort durch Worte konkretisiere. Scheisse, ich habe was falsch gemacht. Peinlich. Das ist ja so peinlich…

Ein etliches Stück weiter finde ich nun meine Agentin. Ihr Körper streckt sich in eines der Regale der Abteilung, Politik, Gesellschaftspolitik, Politikwissenschaften. So oder so ähnlich heißt die Abteilung. Währenddessen wir gemeinsam die Gänge durchstreifen hält sie immer wieder an. Sie macht mich auf Buchtitel aufmerksam, oder auf logistische Maßnahmen, warum Bücher z.b. in Augenhöhe stehen und andere in Bodennähe platziert sind. Ja, stimmt warum ist das eigentlich so? Und warum gibt es eigentlich so viel mehr Bücher über Terrorismus, Krieg und Totalitäre Systeme und warum so wenige über Demokratie und gesellschaftspolitische Visionen über eine bessere Welt. Warum? Das sind ja ohnehin keine Romane. Da geht es ja um das wirkliche Leben. Gut Kriminalromane sind der Renner, aber das ist ja das wirkliche Leben. Warum gibt es so wenige AutorInnen, die mit visionärem Denken und Vorschlägen die Gesellschaft ändern möchten, die leeren Plätze mit Büchern auffüllen, deren Inhalte uns zu einem "Wow! Ja!" verführen und nicht zwischen den Zeilen bei einem "Ja, das wissen wir eh!", "War immer schon so!" hängen lassen. Warum? Und überhaupt, wo gab es die erste Bibliothek? Genau, ich weiß es jetzt auch.                                              

Daneben läuft immer wieder eine Stimme vom Band. Vielleicht immer, aber ich nehme sie nicht immer wahr. Ich bin auf meine Agentin konzentriert. Sie spielt mit den Büchern, sie hat sich ihrer angenommen, das ist fühlbar durch ihre ganze Körperlichkeit.
Ich nehme ihre Brille, die gerade auf Augenhöhe zwischen den Büchern liegt. Ich soll vorlesen. Buchtitel zum Thema Terrorismus. Und es sind nicht wenige - viel über die RAF. Ich nehme mir ihre Brille einfach ohne zu fragen. Obwohl ich manchmal mit ihr spreche, obwohl ich nicht weiß ist das ok oder nicht. Irgendwann ist mir das auch egal. Ich nehme mir die Brille also, einfach so - ziemlich unhöflich eigentlich. Aber ich bin ja schließlich weitsichtig und nicht kurzsichtig. Und im Theater normalerweise …, aber lassen wir das.  

Der Moment, in dem ich darüber nachdenke ist vorbei. Ich bin beindruckt und angekommen. Jetzt verfrachten wir gemeinsam Bücher stapelweise aus der Abteilung "Recht/Gesetz" vor das große Fenster, das einen großzügigen Blick auf den Gürtel und den Verkehr zulässt. Wir stapeln sie dort um uns kurz darauf auf ihnen niederzulassen. Wir beide starren wortlos auf den Betrieb da draußen. Nichts ist zu hören. Wir schweigen. Und plötzlich bin ich unendlich traurig. Ich könnte heulen. Und da ist es zu Ende.

Ich muss jetzt gehen. Scheisse, wo ist der verdammte Ausgang….

Danke für den beeindruckenden Abend.


andreas messinger
renate kreil
simon nagy
elfriede haider

 

von Simon Nagy
nach dem Besuch in der Hauptbücherei am 26.11.2015


Auf Facebook wird die Veranstaltung als performative situation, in der sich besucher_innen einzeln in der verlassenen bibliothek "verirren" angekündigt; als ich Freund*innen frage, ob sie mit mir in die Hauptbücherei gehen wollen, fasse ich diese Beschreibung als interaktives Theaterdings zusammen, obwohl das dem Ursprungstext nicht wirklich entspricht. Durch diese Umformulierung beeinflusse ich, wie ich später merke, meine eigenen Erwartungshaltungen und stelle mich darauf ein, mich (inter)aktiv ins Geschehen einbringen zu müssen. Während ich zum Eingang des abgetrennten Bibliotheksbereiches geleitet werde, in dem die Perfomance anscheinend stattfinden wird, überlege ich noch, ob ich fragen soll, wie sehr ich mit den Performenden interagieren solle – aber denke mir dann: nein, das wirst du wohl selbst ermessen können. 

Unlängst habe ich bei einem von play:vienna ausgetragenen Spiel im öffentlichen Raum mitgemacht, mit dem im Hinterkopf ich mich dem nähere, was auch immer mich jetzt erwartet. Das Spiel hat so funktioniert, dass ich bei einem (aus Karton gebastelten) Adventure-Automaten einen Knopf betätigt habe, woraufhin mir ein Kuvert mit einem Handy darin entgegen gefallen ist, das angerufen worden ist, sobald ich es in der Hand gehalten habe. "Da steht er nun, in seinem alten Strickpullover, und schaut, wo die Stimme herkommt, die gerade zu ihm spricht", hat die Person am Telefon dann zu reden begonnen. Mir ist eine Geschichte erzählt worden, deren Protagonist ich selbst war und die sich geändert hat, je nachdem, welche Handlungen ich gesetzt habe. Im Nachhinein habe ich mich fürchterlich geärgert, weil ich mir gedacht habe, dass ich das Spiel viel zu wenig ausgereizt habe: ich habe gar nicht versucht, aus dem Schema auszubrechen und damit die Grenzen des Spiels zu testen – etwa indem ich ganz woandershin gehe, als mir aufgetragen wird, nach der Stimme suche, die zu mir spricht oder beginne, zu ihr zurück zu sprechen. Ich habe mir vorgenommen, das nächste Mal, wenn ich mich in einer ähnlichen Situation finde, möglichst nonkonformistisch zu handeln und schauen, wie viel das Spiel aushält. 

Selbstverständlich schaffe ich es nicht, im Rahmen der theatercombinat-Performance diese Vorsätze umzusetzen. Ich kann nicht einschätzen, zu welchen Teilen sich die ganze Sache selbst als Theater im klassischen Sinn (mit aktiven Spielenden und passiven Rezipierenden), als Performance (zwar mit aktiven Teilnehmenden, die aber nichts an der Choreographie ändern) oder tatsächlich als Spiel versteht (das durch die Einwirkung der Besucher*innen mitgestaltet wird). Zunächst beschreibt mir meine Agentin in konspirativem Tonfall diverse Menschen, die sich fiktiverweise in der Bibliothek aufhalten, und Geschichtenfragmente zu ihnen bzw. Beobachtungen, die über längere Zeit an diesem Ort über sie angestellt wurden. Ich versuche, mir möglichst viele Details zu merken, ich gehe davon aus, dass ich sie später rekapitulieren muss – um einen wie auch immer gearteten Verdacht auf eine dieser Personen lenken oder vielleicht einer oder beiden der anderen Mitspielenden die Leute zu beschreiben. Die ganze Zeit überlege ich, ob ich Dinge fragen soll, mich weiter zu den Figuren erkundigen oder über meine prinzipielle Funktion, meine Position in unserem Agenten-wasauchimmer-Verhältnis. Während des Monologs meiner Agentin beginnt ein Herr, die in unser Stockwerk führenden Stiegen herunterzugehen – da tritt sie vor und sagt: "Sie können jetzt nicht hierherkommen. Sie stören." Das macht mich total fertig: ist das ein anderer Teilnehmer wie ich gewesen, der versucht hat, aus dem ihm vorgeschriebenen räumlichen Feld in der Bibliothek auszubrechen? Das würde dafür sprechen, dass die Performance nicht sehr flexibel ist. Oder gehört das Anschnauzen auch zur Performance dazu – um genau diesen Fluchtgedanken in den Teilnehmenden noch zu triggern? 

Als wir dann in die Medizinbuch-Abteilung gehen und sich meine Agentin komisch zu bewegen anfängt, frage ich sie, ob alles in Ordnung sei. In meinem Selbstverständnis frage ich das selbstverständlich "im Spiel", in der Hoffnung, damit eine Interaktion innerhalb der Performance auslösen zu können (wenn auch sehr unbeholfen, wie ich zugeben muss), sie sieht mich kurz an und ignoriert mich dann (vermutlich denkend, ich hätte die Frage "im echten Leben" gestellt.) Nachdem ich mehrere Bücher herausgezogen habe, deren Titel irgendwie zum Szenario gepasst hat ("Tanz der Gene" zum Beispiel), in der Hoffnung, dort einen Zettel oder eine sonst wie geartete Information zum Vorgehen zu finden, aber nach einer Weile merke, dass das wohl sinnlos ist, beginne ich, mit meiner Agentin "mit zu tanzen", ergo ihre epileptischen Bewegungen nachzuahmen. Nachdem ich das eine zeitlang gemacht habe und keine deutliche Veränderung passiert ist, verlasse ich den Raum zwischen den zwei Bücherregalen und beschließe, einfach mal herumzustrollen. Kaum biege ich aus Sichtweite, drückt meine Agentin anscheinend einen Knopf und eine Stimme beginnt, Buchtitel vorzulesen. Komplett gehetzt suche ich die vorgelesenen Titel, in der Hoffnung, dass nun in den Bücher Informationen aufzufinden sind; es dauert eine Buchreihe, bis ich verstehe, dass die Stimme einfach alle Titel der Reihe nach vorliest. 

Langsam beginne ich zu ahnen, dass die ganze Sache tatsächlich mehr Performance ist als Spiel, und dass ich vermutlich eher beobachten, Eindrücke aufsaugen und mich auf der (Un-)Ordnung aus Stimmen, Bewegungen und Büchern einlassen sollte statt nach meiner Rolle zu fragen. Trotzdem spiele ich die ganze Zeit im Kopf das Szenario durch, mich den anderen Teilnehmenden zu nähern, mit ihnen Kontakt aufzunehmen und zu schauen, ob wir gemeinsam Dinge tun könnten, die im Rahmen der Performance "vorgesehen" oder zumindest möglich wären, die man alleine nicht bewerkstelligen könnte. Eine Weile steht meine Agentin am Fenster und schaut hinaus und ich mache es ihr nach; als sie sich dann auf einen Sitzpolster setzt und ich wieder dasselbe mache, beschließe ich, jetzt endlich agieren zu müssen. Ich schaue meine Agentin an und sie lächelt ermutigend – jetzt bin ich mir sicher, dass ich sprechen muss, um die Handlung des Spiels voranzutreiben. "Darf ich fragen, in wessen Auftrag Sie meine Agentin sind?", frage ich. "In wessen Auftrag?", wiederholt meine Agentin mit einem Lächeln. "Nun, das ist eine Performance von theatercombinat unter der Leitung von Claudia Bosse." Na toll, denke ich mir – entweder, meine Frage war die falsche und ich hätte etwas anderes fragen müssen, um Information innerhalb des Spiels zu bekommen, oder das Ganze ist extrem meta und die theatercombinat-Information ist Teil der Performance. Eine Weile sitze ich da und überlege, wie ich jetzt am Besten weiter mache, dann sagt sie: "Sie können schon den Ausgang suchen, wenn Sie wollen." Woraufhin ich ganz erschüttert Frage: "Ohnein, habe ich etwas falsch gemacht?", und sie beschwichtigend meint: "Nein, nein, die Performance ist bloß zu Ende." 

Am Weg an den Bücherregalen vorbei komme ich mir wieder wie ein Idiot vor, der die Möglichkeiten, die sich ihm geboten haben, in keinster Weise genutzt hat. Ich vermute, dass es auch die Unsicherheit ist, ob ich die ganze Performance kaputt mache, wenn ich zwanghaft ihre Grenzen auszuloten versuche und damit die Performenden sehr wütend mache, was ich ja auch nicht will. Andererseits habe ich jetzt das Gefühl, eine sehr schwache Leistung hingelegt und meine Agentin in ihrer Rolle als (auf Interaktion aus seiende?) Schauspielerin damit auch nicht zufrieden gestellt zu haben. Als ich nachher zu meinen Freund*innen dazustoße, die aufgrund der beschränkten Platzanzahl nicht teilnehmen konnten, und von meinen dreißig Minuten als Teilnehmender bei diesem interaktiven Theaterdings erzähle, bin ich immer noch total aufgewühlt, verwirrt und unzufrieden. Ich finde die Fragen, die ich mir selbst im Rahmen dieser Performance gestellt und mir selbst gegenüber aufgeworfen habe, irrsinnig spannend und es würde mich selbst interessieren ob ich nun, da ich das Prozedere einmal erlebt habe, mich bei einem hypothetischen nächsten Mal trauen würde, mehr zu machen, oder ob ich mich ebenso wieder dem vorgesehenen Ablauf unterordnen würde.


andreas messinger
renate kreil
simon nagy
elfirede haider

 

von Elfriede Haider
nach dem Besuch in der Hauptbücherei am 26.11.2015


 - Die Bedeutung des Reglements für mein Leben generaliter - wird nach der Teilnahme vom Donnerstag wesentlich stärker veranschlagt...

(da war auf einmal überhaupt nichts mehr selbstverständlich, den Umständen wie von selbst angepasst. Sogar allein in dem Raum (dem Empfinden nach), ungesehen unterwegs, hat sich die Frage gestellt, WIE gehe ich? - Bewegungsduktus? Welches Tempo?  ....Auf unbekanntem Terrain - bar eines differenzierten Verhaltenskodex, von einer Unsicherheit nach der anderen affiziert, noch gesteigert durch die Begegnung und Kontaktnahme: wie positioniert man sich der Performerin gegenüber??, Wie lange halte ich Blickkontakt??, Darf ich unterbrechen, Einwände, Ergänzungen anbringen?, Eine generelle Unsicherheit der eigenen Körperlichkeit gegenüber (warum bin ich in angegammelten Klamotten gekommen!!!)...

 - Die Verunsicherung von Furcht/Angst generiert: die Angst vor dem verächtlichen Blick (dem gegenüber die vollkommene Wehrlosigkeit)

 - Die Gegenstrategie - Versuch einer Immunisierung durch Munitionierung: mit größter Aufmerksamkeit alles Inhaltliche aufgenommen, um etwaige Fehler, Unplausibilitäten aufzuspüren, der Trumpf in der Hinterhand (da habt Ihr aber schlecht recherchiert!!!, Kein Mensch kann sich hier verköstigen!!! Wie soll das gehen, mit der Makelseite immer an der Wand??) - nicht notwendig geworden, dennoch die Brisanz des Blickkontakts, Furcht erhöht das Spannungslevel und somit die Erlebnisintensität....

 - Demnach hat der Blickkontakt am intensivsten nachgewirkt. Flusser unterscheidet den Blick des Menschen auf einen anderen und den auf Dinge. Welchen Blick hat eine Performerin auf den Zuseher/Teilnehmer, den, dem die Gemeinsamkeit innerhalb der Species zentral ist?, Wahrscheinlich nicht!, sonst funktioniert es nicht...(kann mir jetzt vorstellen, dass die Abramovic MoMA Aktion auch unter Beliebigen funktioniert...)

 - Auffälligkeiten: die ich nicht dechiffriere: Welche Bedeutung hat die anschwellende Hysterisierung des Sprechers/der PerformerIn in der Abfolge der Buchtitel? Panische Immanenz?... Überforderung und Unerträglichkeit in einen Rhythmus abgeleitet...

Fazit/Credo: ALLEM ZUM TROTZ, DENNOCH, DENNOCH Wenn das Defizitäre der Wartenden, Simulierenden irgendwie aufgehoben werden kann,  die Schriftwerke sind mein einziger Tipp (VOM GRUNDE MEINER SEELE), Mit dem Band "Die Mönche vom Bodensee" (-;  würde ich nicht anfangen, aber die Wege sind individuell...
In der AK Bibliothek treffe ich immer, wenn ich mich dorthin begebe, auf einen Mann mit Trolley, den er mit in den Lesebereich nimmt, in den Spind passt er nicht... Vom Roger Willemsen gibt es eine Erzählung, Schauplatz des Beginns die NaBi - wo eine Frau mit der peniblen Lektüre von Kafkas "Hungerkünstler" einen rigiden selbstgefährdenden Weg einschlägt...

Nachtrag zur Performance am 26.11.: darf ich Ihnen einen Tatsächlichen hinzufügen zu den gestrigen Fiktiven mit roten Socken oder Wangenekzem: einer, der auch die Hauptbücherei als Lebensraum frequentiert und nicht der Lektüre wegen dort ist: ein heute über Sechzigjähriger, Röntgenassistent in Pristina gewesen, bei Kriegsausbruch nach Österreich geflohen, hier ein Germanistikstudium begonnen wegen des Visums, - eine gewisse Anzahl von angerechneten Stunden hat er für die jeweilige Verlängerung dessen gebraucht - und die österreichischen Professoren tragen ihn durch, er nimmt die Prüfungen auch ernst, beginnt beim Schmidt-Dengler eine Dissertation zu schreiben über "Konfliktkonstellation im Werk von Thomas Bernhard" oder so ähnlich... Irgendwann ist der Krieg aus, der Professor stirbt, die Diss soll nicht ganz den Kern getroffen haben (was aber Schmidt-Dengler nicht zu einem Abbruch raten ließ)...und dieser Mann lebt quasi in der Hauptbücherei.



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