publikation anatomie sade/wittgenstein

eine theaterarbeit in 3 architekturen

kritiken

111 minuten skizzen (ehemalige lederfabrik)

body and building under construction (IP.TWO)


body, building and theory under construction (IP.TWO)


embody (halle g)

  buchkritik von julia danielczy zu "anatomie sade/wittgenstein- eine choreographische theaterarbeit in 3 architekturen", juli 2004

"theatercombinat" - so nennt sich das 1996 von der Ernst-Busch-Absolventin Claudia Bosse gegründete KünstlerInnen-Kollektiv.
Ziel der Gruppe sind Erforschung und Veröffentlichung theatraler Kommunikations- und Handlungsmodelle in Nichtkunst- und Kunsträumen. Politik und Öffentlichkeit in ihrer Wechselwirkung sind vordergründiges Thema des Kollektivs.
Dementsprechend ist auch der im Frühjahr erschienene Band Ergebnis der Ensemblearbeit. Triton hat diesen nicht klassifizierbaren Band "anatomie sade/wittgenstein - eine choreographische theaterarbeit in 3 architekturen", eine Art Dokumentation eines eineinhalbjährigen Arbeitsprozesses, herausgegeben.

Nach der Chronologie der drei Architekturen, nämlich der Phase 1 (März 2001 bis Mai 2002) in einer ehemaligen Lederfabrik im fünften Bezirk, Phase 2 (August bis November 2002) in einem Gewerberohbau am Lerchenfeldergürtel und Phase 3 (Januar bis Februar 2003) im hochkulturellen Museumsquartier, ist der Band auch formal organisiert.

Die inhaltliche Ebene wird bestimmt von Protokollen der SpielerInnen, Briefen, Rezensionen von ZuseherInnen, Probenerinnerungen von Claudia Bosse, Schwarzweißfotos über zwei Seiten oder wie auf Kontaktbögen aneinandergestoppelt.
447 Seiten Großformat versammeln damit theatrale Erkenntnisse zur Frage, inwieweit über das körperlich Erfahrbare das Unformulierbare Thema wird.

Sade/Wittgenstein-Zitate waren Ausgangsbasis und zugleich physisch zu erforschende Ziele. "die texte wurden nicht bebildert, sondern waren assoziative, methodische hintergründe der körperforschung. die choreographien sind aus der perspektive dieser differenten sprachlichen konstruktionen entwickelt worden, untersucht wurde, wie diese texte auf den unterschiedlichen physiognomien und anatomien spuren hinterlassen oder hinter den muskeln und sozialen gravuren des jeweiligen körpers verschwinden."

Über Sades "Die Philosophie im Boudoir" und "Die 120 Tage von Sodom" arbeitete sich die Gruppe vor zu Wittgensteins "Tractatus logico-philosophicus" und "Über Gewissheit" - wortwörtliche Zitate werden mit der individuellen Wahrnehmung montiert, in Spalten querformatig angeordnet, bis zur Halsverkrümmung des/der LeserIn oder zur veränderten Buch-Haltung. Die "KonstrukteurInnen" des Bandes machen auch vor der Erforschung der körperlichen Funktionsmechanismen bei der Lektüre dieser unglaublich dichten Bestandsaufnahme einer für alle Beteiligten ungewöhnlichen Theatererfahrung nicht halt. Über die Sprache zum Gedanken vordringen, über Körper zum Fühlen, Denken - über die Einsamkeit in die Gemeinschaft und vice versa.

8 Monate wurde einzeln probiert, mit der Vereinbarung, dass sich die SpielerInnen untereinander nicht absprechen. Die Reaktionen, die Bezugnahme, der Versuch unter neuen Bedingungen zu kommunizieren, wurden dann in disziplinierter Form bis an die Grenzen des Verkraftbaren ausbalanciert. In Räumen außerhalb eines "Kunstkontextes", zu Zeiten außerhalb der Geschäftigkeit arbeitete die Gruppe, die aus circa 20 Personen bestand. Körpertraining, asiatische Kampfsport- und Meditationstechniken wie Tai Chi und Wu Shu wurden zu Forschungs-Instrumenten.

Die sogenannten "Veröffentlichungen" der Ergebnisse, die Aufführungen, wie man landläufig sagen würde, fanden von 22.00 bis 7.00 Uhr morgens statt, auch die RezipientInnen waren Teil der Untersuchung, ein ausgesuchter Kreis, von PensionistInnen über Studierende der formalen Logik. Nach diesem Prinzip der Grenzerfahrung und des Voyeurismus verhält sich auch der Band, er strapaziert den/die LeserIn über alles Gewöhnliche und macht ihn zugleich frei zwischen gleichwertigen Texten. Nur die Phasen ändern sich, die Texte aber folgen keiner inhaltlichen Bewertung, an jeder Stelle kann zwischengelesen werden.

Nach dem Stationentheater, den Parallelhandlungen des "theatercombinat" folgt nun ein Stationen-Buch, das sich aus scheinbar Fragmentarischem, aus Unfertigem zusammensetzt. Und freilich klingen diese monatelangen Studien der Selbst- und Wittgensteinerfahrung auch emotional gefährlich. Gerade diese marginalisierte Theaterarbeit schafft ambivalentes, spannendes Rezeptionsverhalten. In den verschlungenen Pfaden der sehr persönlichen Berichte folgt man der Selbsterfahrung, ohne eindeutige Antworten zu erhalten. Und soll auch so sein. Wie sich der Band gattungsspezifisch nicht einordnen lässt, ist auch keine LeserInnenkategorie zu benennen. Ein interessantes Buch, dessen Zielpublikum sich auf ein anregendes Leseexperiment einlassen darf.

www.literaturhaus.at/buch/buch/rez/theatercombinat/


    buchrezension von peter stamer zu "anatomie sade/wittgenstein- eine choreographische theaterarbeit in 3 architekturen" erschienen 2004 im triton verlag,
februar 2004

Die Unlesbarkeit des theatercombinats
‘Never judge a book by its cover’, ist so ein gängiger Spruch im Englischen, der sagen will: man soll nicht nach dem urteilen, wie sich ein Objekt oder jemand präsentiert. Der fast ganz weiße Umschlag dieses Buches täuscht daher: innen drin warten 448 dicht bedruckte und typografisch anspruchsvolle Seiten Material über die Arbeit „anatomie sade/wittgenstein“ des Theatercombinats. Wobei man auch hier vorsichtig sein muss: der Untertitel „eine choreographische theaterarbeit in 3 architekturen“, der sich in erster Lesart auf die drei Stationen dieses Projekt bezieht, gilt auch für das Buch. Das Buch selbst muss man lesen, wenn man es überhaupt lesen kann, als eine Text-Choreografie, die sich in unterschiedlichen Textsortenarchitekturen bewegt. Das Buch choreografiert mit Hilfe einer ausgeklügelten Typografie drei Arbeitsphasen: die Arbeit in einem Industriegewerbebau, in einem im Bau befindlichen Rohbau und im Tanzquartier. Darin schreiben die Ausführenden, erstellen Protokolle, schildern ihre Befindlichkeiten, dazwischen sind Bilddokumente aus der Produktion geschaltet. Jeweils im Anschluss an jede Schrift finden sich Materialsammlungen, die die Wahrnehmung von Rezipienten, aber auch der Teilnehmer selbst darstellen.

Jede Phase wird durch eine unterschiedliche Textanordnung markiert: vertikal zur Buchseite, in Spalten gehalten, die den einzelnen Akteuren vorbehalten sind; horizontal in Textblöcken, wodurch die einzelnen Schriften auf der jeweiligen Seitenhöhe gelesen werden können; oder auch als durchgehender Text, wobei die Schriften der Teilnehmer nur durch die jeweilige Typografie zu unterscheiden sind. Neben datierten Protokollen, die die jeweiligen Tätigkeiten und Aufgaben aus den jeweiligen Arbeitsphasen zu dokumentieren scheinen, finden sich Kommentare oder Randbemerkungen, die sich dann auf das Erlebte und Geschriebene beziehen. Die Anordnung der Texte unterscheidet damit in Schriften, die zum Teil wie ‚Streams of consciousness’ direkt aus dem Eindruck des eigenen Tuns, aus der immanten Produktion stammen, und Texten, die sich über die Produktion äußern. Das Buch führt damit im eigentlichen Sinne keinen eigenen Diskurs über die Arbeit, weil es – obzwar es typografisch streng geordnet erscheint – eine hierarchische, auktorial intendierte Sinn-Ordnung verhindert. Vielmehr stellt es in den Passagen, die die einzelnen Arbeitsphasen betreffen, den Diskurs im Moment des Schreibens her, der jedoch kein Diskurs über diese Arbeitsphasen ist. Der Diskurs wird selbst Schriftmoment, Graphie und Graphisches. Das Buch übersetzt also nicht, es setzt in jenem Sinn, wie ein Schriftsetzer ein Buch kompiliert. Es ist eben nicht semantisch zu lesen, sondern buchstäblich, grafisch.

Tatsächlich unterstellt die streng abgezirkelte Typografie zwar Figurentexte, die von zugewiesenen Stimmen gesprochen zu werden scheinen, aber – analog zur Reduktion der Eigennamen der Teilnehmer auf Initialen – in der Querfeldein-Lektüre erscheint ein vielstimmiger Schrift-Chor, der a-repräsentativ ist, nicht abbildend, nicht darstellerisch: das Buch ist nicht be-schreibend, sondern beschriftend. In diesem Sinne scheitert das Buch an einer genauen Wiedergabe der Arbeitsweisen des Theatercombinats, weil sich das Buch verselbstständigt in seiner Widerständigkeit einer diskursiven Übersetzung. Die Typografie, die die Parallelität der Arbeitsweise zu repräsentieren trachtet, verweigert sich diesem Repräsentationsanspruch und setzt sich vielmehr in den Gestus des performativen Schreibeaktes. Damit kann die Form der Aufführung wieder dem Akt selbst zurückerstattet werden, gleichzeitig auf den das Schreiben motivierenden Moment hinweisen wie auch den Unterschied zwischen Schreiben und Erfahren aufführen.

Dadurch, dass das Buch einen typografischen Zwischenraum öffnet zwischen der Schrift und den durch sie geschehen könnenden Schilderungen, wird die Übersetzung als nicht gelingend markiert und damit als Anforderung überwunden. Das Buch als Diskurs ist unlesbar; erst in den Auslassungen, in den Zwischenräumen, dort, wo entweder alles voll geschrieben ist, oder nichts steht, nur dort kann sich eine Lektüre als Lesebewegung niederlassen, die selbst eine Art „choreografische (Theater)Arbeit“ ist.


www.theatercombinat.com theatrale produktion und rezeption