fatzer-fragment

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zusammenfassung der arbeitsansätze
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gespräch zu regie
gespräch zur position des zuschauer
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  zuschauer

auszug eines arbeitsgesprächs zu fatzer. genf im juni 1998.
mit bertrand tappolet, sylviane dupuis

b.t.
ich möchte über die kommunikation mit dem zuschauer sprechen. ich glaube, der zuschauer muß schon verstanden haben, was der gestische vorschlag oder die gestensprache der arbeit ist, um sich einzubringen.

wie ich claudia verstehe, ist die arbeit der schauspieler eine frage der kombinatorik. das ist sehr kompliziert, denn es werden unglaublich viele elemente integriert. im text, z.b., gibt es die verschiedenen arbeitsphasen, erste, zweite, dritte arbeitsphase, und im innern noch die kombinationsmöglichkeit von a, b und c-texten, die kombinationsmöglichkeiten der verschiedenen textsorten. und es gibt bestimmte wechsel dieser ordnung während der aufführung durch claudia. das bringt die spieler in gefahr, man könnte sagen, in gewisser weise vereinzelt oder vereinsamt es sie auf mehreren ebenen. jedesmal wenn sich ein system installiert, z.b. im verhältnis zwischen dem individuum und dem chor oder im prozeß, eine gemeinsame sprache zu finden, stört claudia das system, damit sich das eben nicht installiert. das spiel entwickelt sich permanent darüber hinaus.

mit einsam meine ich z.b. die art und weise, in der die spieler auf sich konzentriert waren in der form, in der sie das spiel der anderen aufnehmen, und gleichzeitig immer einen bezug herzustellen zu den anderen schauspielern, dem chor und den zuschauern. da sind sehr viele elemente zur gleichen zeit zu integrieren. ein moment davon ist z.b., daß man "blind" spielt. zwischen dem flur links und dem foyer z.b. sieht man sich nicht. und selbst wenn die spieler, wie im chor, zusammen gehen, halten sie keinen blickkontakt zueinander. das ist schließlich ein wesentlicher unterschied zur klassischen ausbildung der schauspieler, bei der viel darauf beruht, daß die intention über den blick transportiert wird.
beim ersten mal ist der zuschauer zunächst verwirrt über die räumliche struktur. er findet sich in einem raum, wo keine klassische szene (bühne) mehr existiert, wo er keinen zuschauerraum mehr hat. der raum ist zerstreuend (dispersante), die flure, türen, die regie, die kulissen sind geöffnet. wenn man dann aber wiederkommt, stellen sich diese fragen schon nicht mehr

s.d.die organisation des raums verändert sich ja ständig.

b.t.
unbedingt. es fehlen die klassischen verbindungen. variiert man die orte, verändert das alles, was passiert.
s.d.
beim ersten mal brauchte ich vielleicht eine halbe stunde, um wirklich reinzukommen, und je mehr die zeit fortschritt und je mehr ich das „natürlich“ fand, entstand das bedürfnis, drin zu bleiben, und das hätte sehr lange zeit dauern können. es gab momente, wo für den zuschauer nichts passierte, und ich glaube, es braucht vielleicht momente wie die, um sich zu erholen. und je länger es dauert, desto mehr wird es einem möglich, glaube ich, sich fragen dazu zu stellen. das spiel selbst bringt uns dazu, zuhören zu lernen, das hören zu schulen. wiederzukommen wäre das ideal.
ich glaube, wenn die zuschauer aktiv sind, selbst wenn sie keine gesten ausführen, aber wenn sie aktiv sind, passiert etwas mit den spielern. und auf einmal gibt es andere dynamiken.
b.t.
ich glaube, die große neuheit für mich ist das aktive hören.
s.d.
voilà.   
b.t.
das ist wie mit einem kameraobjektiv. d.h. ich muß in jedem moment entscheiden, ob ich zoome, auf dem platz bleibe oder mich bewege. ich kann mein eigenes blickfeld entwerfen, ein feld mit unterschiedlichen tiefenschärfen und eine karte anlegen, mit der ich mich bewege. ohne zweifel das interessanteste war für mich der linke flur, in dem die scheinwerfer aufgehängt sind. wenn man ihn durchquert, kann man sich körperlich durch das sprechen hindurchbewegen. durch seine resonanz, die man körperlich aufnimmt, begreift man die machtbezüge (rapports de force), die von den spielern physisch sehr klar gestaltet werden, selbst körperlich. und dieser raum ist nur für ein, zwei, drei zuschauer gleichzeitig zugänglich, wenn es mehr sind, wird es unangenehm. ich finde es interessant, dieses werk so in einer gewissermaßen privilegierten form zu betreten.
im flur gibt es eine art von spiel zu sehen, die extrem genau ist, extrem klar, besonders in momenten, in denen die spieler sich attackieren, kraftfelder bilden, oder wenn sie kämpfen. dann sieht man alles wie in einer extrem hohen auflösung. der flur ist sozusagen überbelichtet. interessant ist, dagegen in einer „unterbelichtung“ wie im zentralen raum zu spielen, wo eine ganz andere aufmerksamkeit des blicks verlangt wird. das ist manchmal an der grenze der sichtbarkeit, das erfordert eine bestimmte gespanntheit des blicks und dann geht man über in diesen anderen raum, der überbelichtet ist auf der blickebene, und die wechsel erfordern gleichzeitig eine andere spannung auf der ebene des hörens, die optik verändert das hören. interessant ist dieses passieren von einem raum in den andern. dazu kommt das, was sylviane meinte. man hört die stimmen und geräusche aus dem zentralen raum, man sieht, was im flur passiert oder passieren könnte und das alles kann auch noch vom kommentartext durchkreuzt werden. 
ich glaube, daß in den durchquerungen, die gemacht werden, besonders im viereck, wenn ein spieler hier ist, ein anderer dort, die sich nicht ansehen, sondern mit den blicken in den nacken, dann etabliert das einen physischen, geometrischen raum vor der sprache, der das sprechen einrahmt und der auch die gewalt einrahmen kann. ich sprach zwar vorhin von der scène dispersante, aber man kann in manchen momenten auch von einer scène dispersée reden, d.h., daß die spieler selbst die szene erzeugen. man sieht die grenzen dieser szene (spielräume) und die art, in der sie ihre architektur schaffen, damit dann das sprechen zirkulieren kann, sei es im innern, sei es nach außen, sei es im dialog unter ihnen. und das, glaube ich, kann der zuschauer sehr gut wahrnehmen.
das ist die art, die den zuschauer dazu bewegt, die worte zu hören oder zu verstehen, in diesem rahmen, der permanent redefiniert wird. zwischen den fragmenten oder den szenen gibt es einen moment, der den raum atmen läßt.
das ist wie mit diesen wachstafeln für kinder, es wird etwas gebaut und dann wieder ausgelöscht, man kann es vergessen, damit etwas neues darauf entstehen kann. das strukturiert auf eine bestimmte weise die erinnerung, den prozeß der aufmerksamkeit auch auf die sprache.
s.d.
das hören ist absolut fragmentarisch. man muß das im kopf konstruieren, was man hört, was man bekommt, ist absolut fragmentarisch, man empfängt es nicht in einer bereits vorkonstruierten weise. so passiert das, denke ich. im anschluß arrangiert man die sachen, jeden abend, immer wieder unterschiedlich.



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